„Es tut mir leid, dass Ihr Bruder tot ist.“ Das hätte Thorsten H. zu Sidy und Lassana Dramé sagen können. Er leitete den Polizeieinsatz, an dessen Ende der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé tot war, durchsiebt von Kugeln aus einer Maschinenpistole. Stattdessen sagt er: „Der Einsatz war ein Erfolg für uns.“ Er habe „gar nicht verstehen“ können, dass Mouhamed Dramé „bei sofortiger Versorgung stirbt“. Einer der Schüsse hatte Mouhamed in den Bauch getroffen, einer die Rückseite seiner rechten Schulter, einer die rechte Gesichtshälfte, ein weiterer seinen Unterarm.
Die Brüder des Opfers sitzen schräg gegenüber von ihm im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts. Thorsten H. schaut sie nicht einmal an.
Seit Ende Dezember läuft der Prozess gegen fünf der Polizisten, die an dem tödlichen Einsatz in einer Jugendhilfeeinrichtung im Dortmunder Norden am 8. August 2022 beteiligt waren. Der mutmaßliche Todesschütze Fabian S. ist wegen Totschlags angeklagt. Thorsten H. steht wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung vor Gericht, Jeannine Denise B., Pia Katharina B. und Markus B. wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt. Bislang haben sie geschwiegen. Am 17. April, dem elften Prozesstag, äußerten sich mit Thorsten H. und Markus B. erstmals zwei der Angeklagten zu den Vorwürfen. Ihre Einlassungen entsetzten viele der Prozessbeobachter.
Thorsten H. behauptet, keine Zeit gehabt zu haben, um Verstärkung anzufordern, etwa durch einen Psychiater oder ein Sondereinsatzkommando. Als Rechtsanwältin Lisa Grüter, die zusammen mit dem Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes die Nebenkläger vertritt, ihn fragt, ob man die Situation nicht hätte statisch halten können, reagiert H. unwirsch. „Was soll ich an dieser Stelle abwarten? Bis er sich das Messer in den Bauch rammt?“, bellt er.
Der Leiter der Jugendhilfeeinrichtung, Alexander G., hatte um 16.25 Uhr an jenem Tag die Polizei gerufen, weil Mouhamed Dramé in einer Mauernische im Innenhof der Einrichtung kauerte und sich ein Messer an den Bauch hielt. Tags zuvor war der Jugendliche wegen Suizidgedanken in psychologischer Behandlung gewesen. Um 16.45 Uhr ordnete Thorsten H. via Funk an, Pfefferspray gegen Mouhamed Dramé einzusetzen. Niemand hatte den Jungen aufgefordert, das Messer wegzulegen. Niemand hatte ihm den Einsatz polizeilicher Zwangsmittel angedroht, obwohl das in Nordrhein-Westfalen vorgeschrieben ist.
Versuche mehrerer Betreuer der Einrichtung sowie eines Polizisten in Zivil, in Dialog mit Mouhamed zu treten, hatten nicht gefruchtet. Zeugenaussagen belegen: Der Jugendliche hatte weder auf Anspracheversuche noch auf den Trubel um ihn herum reagiert, als zwölf Polizisten Stellung bezogen.
Nach dem Angriff mit Pfefferspray soll Mouhamed aufgestanden sein und mit dem Messer in der Hand auf die Beamten zu gegangen sein. „Im Rahmen der Vernehmungen“, sagt Lisa Grüter während der Verhandlung, habe keiner der Angeklagten geschildert, „dass er oder sie einen konkreten Angriff mit dem Messer auf sich oder andere befürchtet hat.“
Vier der fünf Angeklagten waren kurz nach der Tat von der Mordkommission der Polizei Recklinghausen vernommen worden – fälschlicherweise als Zeugen statt als Beschuldigte. Nach zehn Prozesstagen, an denen der Vorsitzende Richter Thomas Kelm sich um eine Entscheidung drückte, erließ er am elften Prozesstag ein Beweiserhebungsverbot für diese Aussagen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft basiert wesentlich auf diesen Aussagen.
Lisa Grüter beanstandete diese Entscheidung in einer Prozesserklärung. Den Polizisten sei bewusst gewesen, dass sie von Zeugen zu Beschuldigten werden konnten. Das geht etwa aus WhatsApp-Nachrichten zwischen Markus B. und seiner damaligen Lebensgefährtin hervor. Darin nennt der Angeklagte seine Kollegen aus Recklinghausen „richtige Wichser“ und beschwert sich darüber, einer von ihnen habe ihm gesagt, er werde über die Staatsanwaltschaft vorgeladen, wenn er nicht zur Befragung erscheine. „Ich habe nur darauf geantwortet: Pass mal auf, wie redest du mit mir. Ich bin nicht dein Hampelmann. Ich frühstücke, gehe duschen und dann überlege ich mir, ob ich komme“, schrieb Markus B. dazu.
Das Beweiserhebungsverbot verstoße gegen einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts und Bundesgerichtshofs, argumentierte Grüter. Zudem drohe der BRD, sich wegen Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten zu müssen.
Wir berichten im UZ-Blog ausführlich über den Prozess, in dem sich zum ersten Mal in der Geschichte der BRD ein Polizist wegen Totschlags im Amt verantworten muss.