In weit mehr als 100 Orten fanden am 1. September, dem Antikriegs- und Weltfriedenstag, in der BRD Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen statt. In vielen Städten richtete sich der Protest gegen die Stationierung neuer US-Raketen auf deutschen Boden. Wir dokumentieren exemplarisch die Rede von Alice Czyborra, die sie in Göttingen hielt. Alice Czyborra, Tochter des Widerstandskämpfers Peter Gingold, sprach als Mitglied der VVN-BdA und für die Initiative „Kinder des Widerstands“.
„Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.“ Mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 wurde wahr, wovor bereits vor 1933 die Hitlergegner gewarnt hatten: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Mein Vater, Peter Gingold, beschreibt in seinen Erinnerungen, wie vor 1933 bereits SA-Kolonnen durch die Frankfurter Straßen marschierten und grölten: „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt, wenn auch alles in Scherben fällt.“ Die Menschen hätten es wissen müssen. Obwohl die schrecklichsten Erfahrungen des Ersten Weltkrieges tief im Gedächtnis eingebrannt waren, die Millionen Toten, die Verwüstung, Hunger und Leid, und doch: Hitler wurde nicht verhindert. Von der wichtigsten Erfahrung der damaligen Generation sprach mein Vater anlässlich des Antikriegstages in den 80er Jahren: „Hätten damals alle, die sagten ‚Nie wieder Krieg‘ sich zusammengefunden, sich miteinander verständigt, trotz unterschiedlicher Auffassung, den Friedenskampf gemeinsam, aber auch konkret geführt, nie wäre vom deutschen Boden ein Krieg ausgegangen.“
Sie riskierten ihre Existenz und ihr Leben
Am 1. September 1939 erfolgte erneut eine große Verhaftungswelle von Kriegsgegnern. Meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Gruppe „Kinder des Widerstandes“ berichten, wie ihre Väter, die bereits Zuchthäuser und Konzentrationslager durchlaufen mussten, an diesem Tag abermals verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden.
„Wenn wir den Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung bringen“, so die Worte meines Vaters, „dann auch das Gedenken an die Frauen und Männer, zumeist einfache Menschen, vorwiegend aus der Arbeiterbewegung. … Von 1933 an haben sie alles riskiert, alles geopfert, was ein Mensch zu opfern vermag, ihre Freiheit, ihre Existenz, das Leben, um überhaupt den Krieg zu verhindern. Im Krieg haben sie gegen den Krieg gekämpft, sie gaben Leben, um Leben zu retten.“
Als der Zweite Weltkrieg begann, befand sich mein Vater in Paris. Er war schon im Sommer 1933 als 17-Jähriger mit seiner jüdischen Familie nach Frankreich geflüchtet.
In seinen Erinnerungen beschreibt er, wie verzweifelt und hoffnungslos er war, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 Frankreich besetzte. „Die Hakenkreuzfahne auf dem Eiffelturm, in Blitzkriegen war fast ganz Europa unter der Herrschaft Hitlerdeutschlands. … Die Wehrmacht bekam den Nimbus der Unbesiegbarkeit.“ Meine Eltern schlossen sich mit weiteren Migrantinnen und Migranten aus Deutschland der Résistance an, kämpften an der Seite des französischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung. In den Juli- und Augusttagen 1944 nahmen sie am Kampf der Résistance um die Befreiung von Paris teil.
Mit Leidenschaft für ein friedliches Deutschland
Seit 1939 überzog die Kriegsfeuerwalze ganz Europa. Die deutsche Wehrmacht ebnete Himmler und Eichmann den Weg zur Auslöschung der europäischen Jüdinnen und Juden in der Schlucht von Babyn Jar, in den Wäldern von Minsk und Riga, in den Vernichtungslagern Auschwitz, Belzec, Sobibor, Majdanek.
Der Nimbus der Unbesiegbarkeit aber verflog vor Stalingrad, als Millionen deutsche Soldaten auf den Schlachtfeldern geopfert wurden, als Hunderttausende Menschen unter den Trümmern der bombardierten deutschen Städte begraben wurden.
Die Gründer der VVN, die Überlebenden der Konzentrationslager, die aus dem Exil und dem Strafbataillon 999 zurückgekehrten, nach alldem, was geschehen war, was sie erleiden mussten, sie haben sich leidenschaftlich für ein demokratisches, ein antifaschistisches, ein antimilitaristisches und ein friedliches Deutschland eingesetzt. Sie standen mit an der Spitze in der Bewegung gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, an der Spitze der Anti-Atom-Bewegung der 50er und 60er Jahre und der Ostermärsche. Sie waren in der jungen Bundesrepublik erneut Repressionen ausgesetzt und viele von ihnen standen vor Richtern, die unter dem NS-Regime Urteile gegen Antifaschisten und Kriegsgegner gefällt hatten. Die vom Naziregime verfolgten Antifaschisten haben sich von ihrem Widerstand gegen die Militarisierung der Bundesrepublik nicht abbringen lassen. Sie haben das in der Präambel des Grundgesetzes niedergeschriebene Friedensgebot gelebt.
Sie waren dabei, als mit dem Krefelder Appell und der mächtigen Friedensbewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen, Cruise Missile und Pershing II, in der BRD protestiert wurde. Vor Hunderttausenden Menschen hat meine Mutter im Bonner Hofgarten von den bittersten Erfahrungen der Antifaschisten im Zweiten Weltkrieg gesprochen und in ihrem Namen eindringlich ermahnt, dort, wo es um Leben und Tod geht, das Trennende zu überwinden, gemeinsam zu handeln. Wie aktuell ist dieser Appell!
Die Stimmen der Widerstandskämpfer fehlen
Als der damalige Außenminister Joseph Fischer 1999 mit der Losung „Nie wieder Auschwitz“ den Angriff der NATO gegen Jugoslawien rechtfertigte, waren es die Holocaust-Überlebenden, unter ihnen Esther Bejarano, die von einer neuen Auschwitz-Lüge sprachen. Empört stellten sie in einem offenen Brief an Fischer die Fragen: „Soll vergessen sein, dass in diesem Jahrhundert zweimal über Serbien von deutschem Boden aus Vernichtung und Verwüstung hinweggingen? Soll vergessen sein das Massaker an einer Million Serben, begangen von deutschen Nazis im Zweiten Weltkrieg und ihren in- und ausländischen Vollstreckern?“
Ihre Stimmen, sie fehlen. Es ist heute an uns, an die besondere historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland zu erinnern, an die deutsche Wehrmacht, die das Land überrollt und Verwüstung und Tod hinterlassen hat, an den Kampf der Roten Armee um die Befreiung von Faschismus und Krieg, an die 27 Millionen Opfer.
Im Kursker Bogen rollen deutsche Panzer
Nach all den Verbrechen Deutschlands an der russischen Bevölkerung im letzten Jahrhundert wird mit einer Geschichtsvergessenheit das berechtigte Verlangen Russlands nach einer Sicherheitsstruktur negiert, die NATO-Osterweiterung immer weiter ausgedehnt. Dies rechtfertigt in keiner Weise den Angriffskrieg Russlands. Wäre es jedoch nicht Aufgabe Deutschlands aufgrund seiner unsäglichen Geschichte, alles zu tun für die Beendigung dieses Krieges, sich unermüdlich einzusetzen für eine friedliche Lösung? Stattdessen liefert Deutschland immer mehr und immer gefährlichere Waffen in die Ukraine, trägt weiter zu einer unübersehbaren Eskalation bei. Auf russischem Boden, im Kursker Bogen, rollen deutsche Panzer. US-Marschflugkörper, Tomahawks und Hyperschallwaffen, sollen ab 2026 in Deutschland stationiert und auf Russland gerichtet werden. Und in unserem Land erfahren wir eine seit 1945 nicht dagewesene Russophobie, Kriegshysterie, eine Militarisierung in allen Bereichen unserer Gesellschaft.
Wir Deutschen haben angesichts unserer Geschichte eine besondere Verantwortung und Verpflichtung für den Schutz jüdischen Lebens, für die Existenz und Sicherheit Israels. Dem Antisemitismus zu begegnen liegt in unserer besonderen Verantwortung. Anschläge auf Synagogen, Schändung von Gedenkstätten und Stolpersteinen, Verharmlosung des Holocaust oder gar Angriffe auf Jüdinnen und Juden erschüttern uns immer wieder. Unerträglich sind die Auslassungen von AfD-Politikern, für die die NS-Zeit ein „Vogelschiss der Geschichte“ ist und das Holocaust-Denkmal „ein Mahnmal der Schande“.
Empörend empfinde ich es jedoch, wenn Kriegsverbrechen an der palästinensischen Bevölkerung als Antwort auf Verbrechen der Hamas mit dem von Nazideutschland begangenen Völkermord an Juden legitimiert werden. Ich finde es unerträglich, wenn der Holocaust instrumentalisiert wird, wenn jede Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs, wenn Proteste gegen die Jahrzehnte andauernde Besatzungspolitik und ihre bedingungslose Unterstützung durch die Bundesregierung, wenn alles dies als „antisemitisch“ kriminalisiert und zum Schweigen gebracht wird. Ich finde es unerträglich, wenn die Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, die bis zu 40.000 Opfer zu beklagen hat, deren Infrastruktur im Gaza erbarmungslos flächendeckend bombardiert wird, die Menschen von Hungersnot bedroht sind, wenn der Protest gegen das Vorgehen der israelischen Regierung mit dem Stigma „Antisemitismus“ behaftet wird. Mitgefühl und Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung und die Forderung nach Ende der Kriegshandlungen hat nichts mit Judenhass zu tun. Niemals werden Israelis und Palästinenser in Frieden leben können, wenn nicht endlich ein Weg für ein gleichberechtigtes und menschenwürdiges Leben des palästinensischen Volkes gefunden wird.
Mehr Verantwortung heißt: mehr Diplomatie
Mehr Verantwortung für Deutschland in der Welt zu übernehmen, das bedeutet für mich, sämtliche diplomatischen Wege zu nutzen, um das Töten und Sterben zu beenden. Die Bundesrepublik zählt zu den wichtigsten Waffenexporteuren in der Welt. Sie befeuern Kriege und treiben Millionen Menschen in die Flucht. Anstatt die Fluchtursachen zu bekämpfen, wird das Asylgesetz bis zur Unkenntlichkeit gestutzt, wird eine Abschottungspolitik betrieben und eine unsägliche Diffamierungskampagne gegen Geflüchtete geführt. Das brutale Attentat in Solingen letzte Woche wird instrumentalisiert, die Geflüchteten pauschal in Mithaftung genommen, ihre unverzügliche Abschiebung gefordert. Haben wir vergessen, dass viele der Asylsuchenden vor dem IS geflüchtet sind? Ein Wahlkampf auf den Rücken der Geflüchteten, der Migrantinnen und Migranten.
Es waren die Verfolgten des Naziregimes, die aus ihren Fluchterfahrungen heraus sich vehement dafür eingesetzt haben, das Recht auf Asyl in das Grundgesetz aufzunehmen. Asylrecht ist ein Menschenrecht. Wir dürfen nicht nachlassen, uns gegen die unmenschliche Migrationspolitik zu widersetzen. Keine Exporte mehr von Rüstungsgütern, keine Exporte besonders in Krisengebiete, wie gesetzlich festgeschrieben.
Ich möchte an die Mahnung von Esther Bejarano erinnern: „Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“
Bundesweit versammeln sich in diesen Tagen Menschen, um an den 1. September 1939 zu erinnern, an den Tag, als Deutschland ein Inferno entfachte und die Welt in den Abgrund stürzte mit über 55 Millionen Toten. Verwüstung und unermessliches Leid. Heute toben Kriege, die zu Brandherden eskalieren können mit unabsehbaren Folgen, wenn diese nicht verhindert werden.
Als wären diese Worte von heute, Bertolt Brecht schrieb sie 1952:
Denn der Menschheit drohen Kriege,
gegen welche die vergangenen
wie armselige Versuche sind,
und sie werden kommen
ohne jeden Zweifel,
wenn denen, die sie in
aller Öffentlichkeit vorbereiten,
nicht die Hände zerschlagen werden.
Weitere Bilder und Berichte vom Antikriegstag gibt es im UZ-Blog