Die Flüchtlingsfrage rückt in bisher nicht gekanntem Ausmaß objektiv vom Rand ins Zentrum der Politik. Die ersten Ursachen dafür sind die Jahrzehnte des Neoliberalismus und der „Krieg gegen den Terror“, der nun auch schon eineinhalb Jahrzehnte dauert. Landstriche, mitunter ganze Länder und halbe Kontinente werden von den Konzernen und den imperialistischen Staaten wirtschaftlich verwüstet, ihrer landwirtschaftlichen und ökonomischen Grundlagen beraubt. Wo auch immer sich Widerstand („Terror“) regt, sind die Armeen der G7 und ihrer Verbündeten vor Ort und verrichten ihr menschenmordendes Geschäft. Von den Folgen der Klimakatastrophe haben wir da noch nicht geredet.
Hunderttausende, ja Millionen Menschen fliehen, um das blanke Überleben zu sichern. Wem das zunächst gelungen ist, der hofft im zweiten Schritt soziale Sicherheit – in Relation zum Elend seines Herkommens – da zu finden, von wo das Elend meist ausging, in den USA und Kanada, in Europa, Australien. Selbst Frau Merkel erwähnte in ihrer Regierungserklärung am 18. Juni, dass allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres mehr als 100 000 Menschen versucht haben, nach Europa zu kommen. Wieviele tausend diesen Versuch mit dem Leben bezahlten, weiß nicht einmal der Stellvertreter Gottes auf Erden, Papst Franziskus.
Die Kanzlerin sprach in diesem Zusammenhang von Verantwortung und Betroffenheit. Und dankte ausdrücklich der Kriegsmarine für die angebliche Rettung von 4 000 Menschen aus Seenot, um sich gleich darauf zu beschweren, dass drei Viertel aller Asylbewerber (nicht Flüchtlinge!) von nur fünf Mitgliedsstaaten der EU aufgenommen würden, zu denen Deutschland natürlich zählt.
Dabei umschiffte sie – mehr oder weniger gekonnt – die Tatsache, dass die Last der Aufnahme der Flüchtlinge vor allem bei Italien und Griechenland (ja Griechenland, Frau Merkel) liegt. 48 000 Menschen kamen seit dem 1. 1. 2015 dort an, in Italien 52 000. Die EU schlägt vor – sicher nicht ohne Frau Merkels Zutun – von diesen Flüchtlingen 16 000 aus Griechenland und 24 000 aus Italien innerhalb der nächsten zwei Jahre (!) auf die anderen EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen.
Pro Asyl nennt diese Politik tatenloses Zusehen, „wie sich die humanitäre Krise zu einer Katastrophe entwickelt“. Die Hilfsorganisation fordert eine „entschlossene und koordinierte Krisenintervention“ in den beiden Ländern. Unter der Überschrift „Europa läßt Griechenland im Stich“ heißt es: „Alle verfügbaren EU- Nothilfefonds und Katastrophenschutzmaßnahmen (Unterkünfte, sanitäre Anlagen, medizinisches Personal und Verpflegung, Transportmittel wie Busse und zusätzliche Schiffe) müssen jetzt schnell aktiviert werden, um die akute humanitäre Krise in Griechenland abzuwenden. Neben europäisch finanzierter Katastrophenhilfe vor Ort müssen die EU- Staaten im Zentrum und im Norden der EU Schutzsuchenden zügig die legale Ausreise aus Griechenland ermöglichen.“
Mit einer solchen Politik ist allerdings kaum zu rechnen. Die Flüchtlingskrise in der Ägäis wird hierzulande nicht einmal zur Kenntnis genommen. Der Vorwurf des Zynismus und der Heuchelei an die Adresse der deutschen Regierungschefin ist deshalb mehr als berechtigt. Erhoben wurde er in zahlreichen Reden und Erklärungen rund um die Aktionen um den Weltflüchtlingstag herum am 20. Juni.
Stattdessen bastelt die große Koalition unter dem Beifall der Unternehmerverbände an einem Konzept, wie aus Flüchtlingen billige Arbeitskräfte werden. Wo früher auf den Sklavenmärkten das Gebiss begutachtet wurde, forderten die Arbeitgeber Baden-Württembergs im Vorfeld von Frau Merkels „Flüchtlingsgipfel“ „das frühzeitige Erfassen von Kompetenzen“. Zu klären sei „in diesem Zusammenhang … die Mindestlohnproblematik“.
Und Merkel liefert. Im Ergebnis des Gipfels zur Flüchtlingspolitik wird einerseits der Zugang zum Arbeitsmarkt – für die Hochqualifizierten – und andererseits die Abschiebung – des untauglichen Menschenmaterials – erleichtert. Das ist allein dem Bund eine Milliarde Euro zusätzlich wert. Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, lobt dann auch „die stärkere Bundesbeteiligung an den Kosten“ und schiebt die Forderung nach, dass das auch für die „Anschlussbeschäftigung“ nach der Ausbildung gelten soll.
Der Umgang von Kabinett und Kapital mit dem Elend der Flüchtlinge entspricht exakt der bisherigen Politik, die erzeugt hat, was sie nun zu bekämpfen vorgibt. Eine fortschrittliche Perspektive ist nur in der internationalen Solidarität zu finden. Aktuell heißt das: Humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge, Stopp der zerstörerischen Konzernpolitik, Stopp der Kriegspolitik der G7 und ihrer Verbündeten. Kapitalismus und Imperialismus dürfen nicht das Ende der Geschichte sein.