Scholz’ China-Reise, die deutsche Politik und der 20. Parteitag der KPCh

Zwischen Kontinuität und Kriegstreiberei

Sebastian Carlens

Selten dürfte eine Auslandsreise eines deutschen Kanzlers derart umstritten gewesen sein wie der Besuch von Olaf Scholz in der Volksrepublik China am vergangenen Freitag. Mit ihm unterwegs waren zwölf deutsche Spitzenmanager. Scholz setzt damit eine Tradition fort, die Angela Merkel begonnen hatte: regelmäßige Besuche im Reich der Mitte, Arbeitstreffen auf Ministerebene, direkte Einbindung des Kapitals – Pflege der Geschäftsbeziehungen mit einem der wichtigsten Wirtschaftspartner. Kritik an dieser Reisediplomatie gab es in der Regel nicht, von den üblichen Warnungen diverser NGOs einmal abgesehen.

Welch ein Kontrast zu Scholzens aktueller Fahrt: Jede bürgerliche Zeitung warnt und mahnt. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock maßregelt öffentlich ihren Vorgesetzten. Das offiziöse „ZDF“ macht in Politikberatung: „Warum Scholz nicht fahren sollte“. Der Kanzler selbst begründete seine Reise in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)“ am 2. November. In einfachen Worten erklärte er, warum Auslandsreisen im Interesse der deutschen Wirtschaft nun einmal zu seiner Arbeit gehören. Solche Banalitäten scheinen selbst in den Chefredaktionen wichtiger Zeitungen nicht mehr Allgemeingut zu sein.

Wichtiger Wirtschaftspartner

„China ist und bleibt ein wichtiger Partner. Doch wenn sich China verändert, muss sich auch unser Umgang mit dem Land verändern“, schrieb Scholz in der „FAZ“. Was es mit dem „wichtigen Partner“ auf sich hat, wird beim Blick auf die nackten Zahlen schnell verständlich: Die Volksrepublik ist der wichtigste Absatzmarkt des größten deutschen Automobilkonzerns VW – dieser erzielt dort 40 Prozent seines gesamten Umsatzes. 34 Fabriken betreiben die Wolfsburger in China, viele in Form von Joint Ventures mit chinesischen Partnern. Das Auswärtige Amt bringt es recht schnörkellos auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind derzeit so intensiv wie nie zuvor. Dies gilt trotz der zurzeit schwierigen Rahmenbedingungen insbesondere für die wirtschaftliche Kooperation zwischen den beiden Ländern. Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner Chinas in Europa. Umgekehrt ist China wirtschaftliches Partnerland Nummer eins für Deutschland in Asien. Das bilaterale Handelsvolumen lag 2019 bei rund 206 Milliarden Euro.“ Laut Statistischem Bundesamt ist China aktuell – noch vor den USA – mit 246,1 Milliarden Euro Deutschlands wichtigster Handelspartner, Tendenz steigend. Hier geht es, wohlgemerkt, um Warenexport. Beim ungleich wichtigeren Kapitalexport sieht es nicht viel anders aus.

Deutsche Abhängigkeiten

Wichtig ist China auch für den Erhalt deutscher Arbeitsplätze. Um beim Beispiel VW zu bleiben: Es droht der Niedergang ganzer Wirtschaftsregionen, wenn Volkswagen ins Straucheln gerät. Mag es noch möglich sein, russische Erdgaslieferungen durch (deutlich teureres und zudem umweltschädlicheres) US-Fracking-Gas zu ersetzen – einen gegenüber chinesischen Verhältnissen adäquaten Absatzmarkt für PKW werden die US-Konzerne ihren deutschen Konkurrenten mit Sicherheit nicht einräumen. Man muss lange suchen, um überhaupt Bereiche zu finden, in denen die chinesische Nachfrage keine Größe für die deutsche Wirtschaft ist. Das „Manager Magazin“ hat sich im Vorfeld von Scholzens Reise diese Mühe gemacht: „China ist der weltgrößte Markt für fast alles. Ausgenommen sind nur wenige Nischenprodukte, beispielsweise Sonnenbänke. Denn in China bedeutet Sonnenbräune niederen sozialen Status, nur Bauern und Bauarbeiter arbeiten an der Sonne.“

Scholz deutet im genannten „FAZ“-Artikel nur an, was die Hintergrundmusik zu seiner Reise ausmacht: China werde sich „verändern“, dementsprechend müsse die Politik reagieren. Worin diese Änderung bestehen soll, bleibt nebulös, denn es ist schließlich kein Geheimnis, dass das Land seit 1949 von einer Kommunistischen Partei, der KPCh, regiert wird. „Unter Xi Jinping entwickelt sich China zu einer totalitären Diktatur, die nach innen wie nach außen aggressiv gegen jeden vorgeht, den sie als Gegner wahrnimmt (…) Für Xi geht es um den angeblich unausweichlichen Sieg des chinesischen Sozialismus über den Westen“, behauptet das „ZDF“. Beweise? Nicht nötig.

Chinesische Kontinuität …

Beim unlängst beendeten 20. Parteitag der KPCh hat der wiedergewählte Generalsekretär Xi Jinping einen Rechenschaftsbericht gehalten, der als offizielles Dokument eine Einschätzung der vergangenen Jahre wie auch einen Ausblick auf die folgende fünfjährige Legislatur enthält. Der Parteitag der regierenden Partei ist das zentrale Ereignis für die strategische politische Entwicklung des Landes, wichtiger noch als der im nächsten Frühjahr anstehende Nationale Volkskongress.

Es lohnt daher, die Rede Xis in voller Länge zu lesen. Wer hier nach einem „Kurswechsel“ sucht, wird enttäuscht werden. In allen grundsätzlichen Fragen hat Xi Kontinuität bekräftigt. Auch vom angeblichen Ansinnen, der Welt den chinesischen Sozialismus mit Gewalt aufzuzwingen, ist hier nichts zu finden. Im Gegenteil: „Wir verfolgen eine defensive Landesverteidigungspolitik und mit Chinas Entwicklung gewinnt der Frieden in der Welt an Gewicht. Ganz gleich, wie weit sich unser Land auch entwickeln mag, werden wir niemals nach Hegemonie oder Expansion streben.“ Und weiter: „China schlägt nicht den überholten Weg einiger Länder ein, Modernisierung etwa über Kriege, Kolonisierung und Ausplünderung zu erreichen. Dieser alte, blutige und schuldbehaftete Weg, der auf Kosten anderer eigenen Nutzen zieht, hat schwere Not und großes Elend über die Menschen in den Entwicklungsländern gebracht. Wir stehen entschieden auf der richtigen Seite der Geschichte und auf der Seite des Fortschritts der menschlichen Zivilisation und halten das Banner von Frieden, Entwicklung, Zusammenarbeit und gemeinsamem Gewinnen hoch.“

… auch in der Taiwan-Frage

Im Hinblick auf Taiwan hat Xi ebenfalls bekräftigt, an einer friedlichen Lösung des Konflikts festhalten zu wollen. „Die Gesamtrichtlinie ‚friedliche Wiedervereinigung – ein Land, zwei Systeme‘ – ist der beste Weg, um die Wiedervereinigung der beiden Seiten der Taiwan-Straße zu verwirklichen. Und dieser Weg ist für die Landsleute auf beiden Seiten der Meerenge, ja für die gesamte chinesische Nation von größtem Nutzen.“ Weiterhin bekräftigte Xi, was seit den 1970er Jahren auch von den westlichen Staaten anerkannt wird: Taiwan gehört zu China – die Souveränität wird von Peking, nicht von Taipeh ausgeübt.

Diese international von der ganz überwiegenden Mehrheit aller Staaten geteilte Sicht wird aktuell in westlichen Medien im klassischen Stil von „Fake News“ regelmäßig infrage gestellt, an der Lage geändert hat sich allerdings nichts. Xis Warnung vor westlicher Einmischung und den dadurch drohenden Konsequenzen macht deutlich, dass China nicht bereit ist, Änderungen an diesem Status quo zuzulassen. Doch auch hier finden sich keine neuen Aspekte. Die Aussagen Xis wurden in der Vergangenheit, auch von seinen Vorgängern, immer wieder in sehr ähnlichen Worten getätigt. Xi hält sich die chinesische Souveränität offen: „Taiwan ist Chinas Taiwan. Die Lösung der Taiwan-Frage ist eine eigene Angelegenheit der Chinesen und muss folglich von den Chinesen selbst entschieden werden. Wir halten daran fest, mit der größten Aufrichtigkeit und Mühe auf die Perspektive der friedlichen Wiedervereinigung hinzuarbeiten, versprechen dabei aber keinesfalls, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Wir behalten uns die Option offen, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Das richtet sich vor allem gegen die Einmischung fremder Kräfte in die Wiedervereinigung Chinas und die vereinzelten separatistischen Kräfte, die eine Unabhängigkeit Taiwans anstreben, sowie ihre spalterischen Aktivitäten, aber niemals gegen das Gros der Landsleute auf Taiwan.“ Was in den westlichen Medien als Ankündigung einer bewaffneten Eroberung des „demokratischen“ und angeblich auf „Eigenständigkeit bedachten“ Taiwan interpretiert wurde, ist also die seit Langem bekannte Position Chinas, aber auch die (offizielle) der USA und der BRD – die sogenannte „Ein-China-Politik“.

Chinesische Friedenspolitik

China sieht die Gefahren, die aus einer enormen Hochrüstung des Westens, verbunden mit immer aggressiveren Äußerungen gegen die Volksrepublik, resultieren. Dementsprechend berichtete Xi einerseits von Fortschritten bei der Modernisierung der Volksbefreiungsarmee, andererseits will die chinesische Führung unbedingt ein Wettrüsten verhindern, das seinerzeit die Sowjetunion in eine fatale ökonomische Sackgasse manövriert hatte. „Die Welt ist in eine neue Phase der Unruhe und des Umbruchs eingetreten. (…) Die Unterdrückungen und Eindämmungen von außen drohen sich jederzeit zu verschärfen“, betonte Xi in seiner Parteitagsrede. Am vergangenen Freitag bekräftigte er seine Ablehnung nuklearer Drohpolitik bei einer Pressekonferenz mit Scholz: Die internationale Gemeinschaft müsse „gemeinsam den Einsatz von und die Drohung mit Atomwaffen ablehnen“, sagte er laut einer Mitteilung des chinesischen Außenministeriums. Gemeinsam müsse man sich dafür einsetzen, eine „Nuklearkrise in Asien und Europa zu verhindern“.

Deutsche Realitäten …

Es drängt sich die Frage auf: Leben Deutschlands Wirtschaft und Regierung sowie Medien und Teile der Politik in zwei verschiedenen Realitäten? In der einen ist China wirtschaftlich derart wichtig, dass das ganze Profitmodell des deutschen Kapitals notwendigerweise auf gute Beziehungen angewiesen ist – dies verdeutlicht die Riege der Reiseteilnehmer in Scholzens Delegation. Neben BASF-Chef Martin Brudermüller, der zu den entschiedensten Befürwortern eines stärkeren China-Engagements zählt (und unlängst eine riesige Fabrik in Zhanjiang einweihen ließ, eine weitere ist geplant), waren auch der neue VW-Vorstandsvorsitzende Oliver Blume, der Siemens-Chef, die Chefin des Pharmakonzerns Merck, der Deutsche-Bank-Vorstand und Vertreter von BMW, Adidas, Bayer und der Biontech-CEO dabei. Der ebenfalls an der Reise beteiligte Hipp-Konzern wiederum hofft, nach dem offiziellen Ende der „Ein-Kind-Politik“ Millionen chinesische Babys mit deutschem Brei versorgen zu können. Scholz und seine Manager haben also eine lange Wunschliste im Gepäck.
Über die angeblichen Menschenrechtsverletzungen dürften sich die Topmanager hingegen wenig Sorgen machen. In jedem westlichen Konzern, der beispielsweise in Xinjiang Fabriken betreibt, weiß man genau, dass dies mit unterdrückten Zwangsarbeitern so nicht möglich wäre. Im Gegenteil: Die chinesischen Arbeiter, darunter auch solche aus der nationalen Minderheit der Uiguren, arbeiten als – im marxschen Sinne – „doppelt freie“ Lohnarbeiter. Damit hatte das Kapital bekanntlich nie Probleme. Schlimm sind die Parteizellen der KPCh in den Betrieben: Das „Handelsblatt“ warnte am 1. November, deutschen Konzernen entgleite „ein Teil ihrer Kontrolle über das Geschäft vor Ort“.

… und deutsche Irrlichter

In der anderen Welt, in der westliche Medien und grüne Ideologen in der Politik den Ton angeben, sieht die Sache völlig anders aus. Hier wird in einer Art und Weise das „Decoupling“ – also der totale wirtschaftliche und politische Bruch mit China – beschworen, die nur noch als Realitätsverleugnung bezeichnet werden kann. Arbeiten also zwei Fraktionen innerhalb der Regierung gegeneinander, ein „China-freundlicher“ Scholz gegen eine „pro-transatlantische“ Baerbock?
So sehr es unterschiedliche Abhängigkeiten und Vorlieben gibt – eine andere Erklärung ist wahrscheinlicher. Insbesondere aufgrund der aggressiven Politik der USA, die unter US-Präsident Barack Obama mit dem „Pivot to Asia“ begann und sowohl von Donald Trump als auch von Joseph Biden fortgesetzt und jeweils verschärft wurde, ist es dem deutschen Kapital nicht mehr möglich, gleichermaßen mit allen Seiten gute Geschäfte zu machen, also in alle Richtungen „offen“ zu sein. Dies sind die USA nicht gewillt zuzulassen, wie es sich am Beispiel Russlands zeigt. Nun übertreffen die deutschen Investitionen in China diejenigen in Russland um mehr als das Zehnfache. Muss das Russlandgeschäft aufgegeben werden, um den Handel mit dem Westen zu retten, ist dies schmerzhaft, vor allem bei der Rohstoffversorgung. Eine „Entkoppplung“ von China hingegen wäre wirtschaftlicher Selbstmord.

Dies dürfte Kanzler Scholz wissen – wenn nicht, hatte ein Dutzend Spitzenvertreter des deutschen Kapitals einige Flugstunden Zeit, ihm das zu erklären. Das wütende Gebell der hiesigen Presse und die bar jeder Vernunft getätigten Aussagen der grünen Führungsspitze sind also einerseits zur antichinesischen Verhetzung der Stimmung im Lande, andererseits als Beschwichtigung der imperialistischen Verbündeten gedacht. Realpolitik macht hingegen der Kanzler – das ist die Arbeitsteilung. Fraglich ist, wie lange ein solcher Eiertanz möglich sein wird. Für das US-Kapital tickt die Uhr: Wegen der enormen Erfolge der Chinesen einerseits, wegen massiver innenpolitischer Widersprüche andererseits könnte sich das Zeitfenster, in dem noch gegen die Volksrepublik vorgegangen werden kann, langsam aber sicher schließen. Die Weltkriegsgefahr resultiert direkt und unmittelbar aus der Aggressivität eines niedergehenden imperialistischen Blocks – zu dem die BRD als sein wirtschaftlich zweitstärkstes Mitglied zählt. Ein Freispruch sind die wirtschaftlichen Abhängigkeiten also nicht.

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"Zwischen Kontinuität und Kriegstreiberei", UZ vom 11. November 2022



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