Die internationalen Verhältnisse befinden sich in einem rasanten, widerspruchsvollen Veränderungsprozess“, heißt es in den Leitgedanken zur Vorbereitung des 26. Parteitags der DKP. Dort wird vor allem von dem „Aufbruch zahlreicher bisher neokolonial und halbkolonial unterdrückter Länder“ gesprochen. Können diese Länder – auch wenn sie sich kapitalistisch entwickeln – eine fortschrittliche Rolle auf der Weltbühne spielen? Sind Indien und Brasilien, die sich beide kürzlich aus Chinas Belt and Road Initiative zurückgezogen haben, nicht Paradebeispiele dafür, wie unzuverlässig dieses neue Bündnis gegen den US-geführten Imperialismus ist?
Bei der Erörterung solcher Fragen ist es hilfreich, zu den Arbeiten sozialistischer Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts zurückzukehren. Damals widmeten sich ganze Fakultäten dem Studium der Dynamiken in den sogenannten Entwicklungsländern. Auch wenn sich die konkreten Bedingungen seither zweifellos verändert haben, können wir von ihrem dialektisch-materialistischen Ansatz viel lernen.
Die Epochenbestimmung
Als sozialistische Wissenschaftler begannen, die aus nationalen Befreiungskämpfen hervorgegangenen jungen Nationalstaaten zu analysieren, ordneten sie diese in den größeren historischen Zusammenhang ein. Das 20. Jahrhundert begann damit, dass sich der Kapitalismus zu einem „Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll ‚fortgeschrittener‘ Länder“ entwickelte (Lenin). Auf seinem Höhepunkt erstreckte sich dieses imperialistische Kolonialsystem über mehr als 72 Prozent des Globus und beutete etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung aus. Die Weltwirtschaft war gekennzeichnet durch massive Akkumulation in den kapitalistischen „Metropolen“ und die Vertiefung der Abhängigkeit in den „Peripherien“.
Die Oktoberrevolution leitete dann die „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab“ ein. Zwar ebbte die revolutionäre Flut in Europa nach den frühen 1920er Jahren ab, doch war dies nicht von langer Dauer: Die Niederlage des deutschen und japanischen Faschismus im Jahr 1945 öffnete den Weg für Revolutionen in China und Vietnam sowie für antifaschistische Befreiungsbewegungen in ganz Osteuropa. Es entstand ein sozialistisches Weltsystem, das der (nunmehr US-geführten) imperialistischen Ordnung entgegengesetzt wurde. Die Schwächung der „alten“ europäischen imperialistischen Mächte nach dem Zweiten Weltkrieg und das Erstarken der nationalen Befreiungsbewegungen führten auch zum Zusammenbruch des imperialistischen Systems der direkten Kolonialherrschaft.
Somit gab es drei voneinander abhängige Strömungen, die den „revolutionären Weltprozess“ in dieser Epoche antrieben: die sozialistischen Staaten, die nationalen Befreiungsbewegungen und die Arbeiterbewegungen in den kapitalistischen Industriestaaten. Unter dieser Prämisse begannen die sozialistischen Wissenschaftler, diese drei Strömungen und ihre Wechselbeziehungen zu untersuchen.
Drei Merkmale der befreiten Staaten
1969 veröffentlichte der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Sergej Tjulpanow sein Buch „Politische Ökonomie und ihre Anwendung in den Entwicklungsländern“. Er nannte drei Hauptkriterien, die den „Entwicklungsländern“ gemeinsam sind:
Erstens: ihre besondere Stellung in der Weltwirtschaft. „Die Mehrheit der vor Kurzem noch kolonialen und abhängigen Länder bleiben mit dem kapitalistischen Weltsystem engst verknüpft, obwohl sie nicht zum System der imperialistischen Staaten gehören.“ Während die politische Unabhängigkeit die direkte Fremdherrschaft beendete, hatte sich die Stellung der befreiten Staaten in der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung nicht verändert. In der Regel fungierten sie weiterhin als Rohstofflieferanten und Exportmärkte. „Die Bedingungen, unter denen die Produktivkräfte der Entwicklungsländer in die weltweite kapitalistische Arbeitsteilung eingebettet sind, unterscheiden sich wesentlich von den für hochentwickelte spezialisierte Volkswirtschaften üblichen Beziehungen der gegenseitigen Abhängigkeit. Die Produktion in den Entwicklungsländern lässt sich mit einem nicht in sich abgeschlossenen technologischen Prozess vergleichen, der in erster Linie durch das ausländische Monopolkapital gelenkt wird. Auch heute noch spielen die jungen Nationalstaaten in der kapitalistischen internationalen Arbeitsteilung die Rolle eines ‚Teilarbeiters‘.“
Zweitens: die besonderen Merkmale ihrer Reproduktionsprozesse. Die koloniale Ausbeutung dieser Gesellschaften hatte zu „multisektoralen Wirtschaften“ geführt: Die Zweige des Landes waren nicht organisch in einer umfassenden Volkswirtschaft miteinander verbunden. Unterschiedliche Produktionsweisen beherrschten die einzelnen Wirtschaftssektoren. So wurde die Landwirtschaft häufig von vorkapitalistischen Produktionsweisen beherrscht, während das Handwerk oft durch einfache Warenproduktionsverhältnisse geregelt wurde und die Industrie entweder zu einem privatkapitalistischen Sektor oder einem staatlichen Sektor gehörte. Die vielen Betriebe, die sich im Besitz ausländischen Kapitals befanden, waren in den Reproduktionsprozess der imperialistischen Staaten integriert, nicht in den der befreiten Staaten.
Drittens: die Sozialstruktur. Die beiden vorgenannten Faktoren spiegeln sich in den Sozialstrukturen der ehemaligen Kolonien wider. Auch wenn die genaue soziale Konstellation oft sehr unterschiedlich war, befanden sich die Hauptklassen der kapitalistischen Produktionsweise (Bourgeoisie und Proletariat) im Allgemeinen noch in der Herausbildung. Die sogenannten „Zwischenschichten“ (Intelligenz, Beamtentum, Militär und so weiter) und vorkapitalistische Gesellschaftsschichten (halbfeudale Grundbesitzer, Stammesaristokratie, Kleriker und so weiter) übten erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft aus. Die Bauernschaft machte häufig die große Mehrheit der Bevölkerung aus.
Wie diese Merkmale nahelegen, mussten die befreiten Staaten dialektisch verstanden werden; sie befanden sich in einem tiefgreifenden und widersprüchlichen Übergangsprozess von vorkapitalistischen Verhältnissen zu einer anderen Gesellschaftsformation. Die Frage war: Auf der Grundlage welcher Produktionsverhältnisse und unter der Führung welcher Klassen vollzog sich dieser Prozess in jedem Land? Während einige Staaten mit antiimperialistischen Regierungen eine sozialistisch orientierte Entwicklung anstrebten – etwa Angola, Mosambik, VR Kongo, Südjemen –, verfolgte die Mehrheit der ehemaligen Kolonien eine kapitalistische Entwicklung.
Theorie der Abhängigkeit
Eine kapitalistische Entwicklung im sogenannten Globalen Süden kann man aber nicht gleichsetzen mit der kapitalistischen Entwicklung Europas. Wie DDR-Wissenschaftler Herbert Graf bemerkte: „Der Kapitalismus in afro-asiatischen Ländern ist kein organisch aus dem Geschichtsprozess der jeweiligen Gesellschaften erwachsener Kapitalismus. Er ist, anders als in Europa oder Japan, im Zuge der kolonialen Unterwerfung und Ausbeutung jener Länder als kolonialer Kapitalismus implantiert worden und hat die Kolonien und halbkolonialen Staaten als abhängige und ausgebeutete Bestandteile in die kapitalistische Weltwirtschaft eingegliedert.“
Diese Position innerhalb der internationalen Arbeitsteilung bedeutet, dass die wirtschaftliche, finanzielle und technologische Abhängigkeit nicht durch eine bloße Steigerung der Produktion überwunden werden kann. Zwar können bestimmte befreite Staaten, die eine kapitalistische Entwicklung verfolgen, zuweilen ein ausgeprägtes Wirtschaftswachstum in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erzielen, doch geht dies nicht mit einer „umfassenden Entwicklung der nationalen Wirtschaft und einer Verringerung der Abhängigkeit und Ausbeutung durch das internationale Monopolkapital“ einher. Die wirtschaftlichen Widersprüche innerhalb des Landes verschärfen sich immer mehr. Graf schlussfolgert, dass der „Prozess der nationalen Befreiung nicht abgeschlossen ist“.
Betrachtet man den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas heute, so bestätigt sich diese Theorie. Zwischen 2000 und 2014 verzeichnete der Kontinent Wachstumsraten von rund 4,5 Prozent, was in den westlichen Medien mit dem Narrativ „Afrika im Aufstieg“ gefeiert wurde. Doch hinter dieser Zahl verbirgt sich eine düstere Realität: Der Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP der afrikanischen Länder südlich der Sahara ist seit den 1970er Jahren tatsächlich gesunken. Die Reallöhne sind dadurch ebenfalls geschrumpft und liegen heute unter dem Wert der 1970er Jahre. Das heißt, Afrika hat ein Wachstum ohne Industrialisierung erlebt, wobei die hohen Wachstumsraten auf steigende Nachfrage und steigende Preise für Rohstoffe zurückzuführen sind. Das ist natürlich nicht nachhaltig, sondern vertieft nur die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse.
Die Bourgeoisie verstehen
Diese fortgesetzte Unterwerfung bedeutet aber auch, dass „fast alle nationalen Formationen in den Entwicklungsländern objektiv in einem antagonistischen Widerspruch zum Imperialismus stehen“ (Tjulpanow). Dieser Widerspruch drängt die befreiten Staaten einerseits zur Konfrontation mit dem Imperialismus. Andererseits treibt die unvermeidliche Verschärfung der inneren Klassengegensätze gleichzeitig die einheimische Bourgeoisie zu Kompromissen mit dem Imperialismus, damit sie ihre soziale Vorherrschaft im eigenen Land nicht verliert. Die jungen Nationalstaaten, die sich auf kapitalistischer Grundlage entwickeln, weisen somit eine schwankende Tendenz zwischen Kollaboration und dem Streben nach größerer wirtschaftlicher Selbstbestimmung auf.
Dies kann zu einer Wirtschafts- und Außenpolitik führen, die objektiv antiimperialistische Tendenzen aufweist, auch wenn der subjektive Faktor nicht explizit antiimperialistisch ist – das heißt, eine Politik, die „den Aktionsradius des Imperialismus teilweise einschränkt“ (Graf).
In ihrem Bestreben, sich größere wirtschaftliche Spielräume zu sichern oder gar einen „gerechteren Kapitalismus“ zu betreiben, wird die nationale Bourgeoisie in den befreiten Staaten häufig eine Strategie des „nationalen Reformismus“ entwickeln, die „eine antiimperialistische Komponente enthält, die je nach Land und spezifischer Entwicklungsphase in ihrer Stärke und Konsistenz variiert“ (Graf). Das Schwanken der Bourgeoisie zwischen Kollaboration und Konfrontation ist häufig fließend: Auf Phasen der Konfrontation können rasch Phasen der Kollaboration folgen, ohne dass es zwangsläufig zu einem Wechsel der Regierung oder der politischen Führung kommt. So kann Brasiliens Präsident Lula sich an einem Tag für die Erweiterung der BRICS einsetzen und am nächsten Tag die US-geführten Destabilisierungskampagne in Venezuela und Haiti unterstützen.
Lehren für heute
So kamen sowjetische und DDR-Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Staaten des „Globalen Südens“ – selbst wenn sie bürgerlichen Charakters waren – in bestimmten historischen Phasen eine fortschrittliche Rolle auf der Weltbühne spielen konnten. Die Vorbehalte und Ungereimtheiten wurden dabei immer betont. Mit welcher Konsequenz die Konfrontation mit dem Imperialismus geführt wird, hängt letztlich vom subjektiven Faktor ab, also von der ideologischen Ausrichtung der politischen Führung.
Heute, nach der Konterrevolution und der Zerstörung des sozialistischen Weltsystems, ist dieser subjektive Faktor zweifellos schwächer als im letzten Jahrhundert. Gleichzeitig hat aber die politische und wirtschaftliche Entwicklung bestimmter Staaten des Globalen Südens neue Tendenzen hervorgebracht, die objektiv das Spielfeld des US-geführten Imperialismus einschränken – was vor allem durch den Aufstieg Chinas ermöglicht wurde. Das zeigt sich zurzeit am deutlichsten an der Erosion der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle Frankreichs über Westafrika.
Es ist die dringende Aufgabe der kommunistischen Weltbewegung, die Niederlage nach 1990 zu überwinden, uns zu konsolidieren und die wachsende antiimperialistische Entwicklung mit dem Kampf für den Sozialismus zu verbinden.