Zu Brigitte Reimanns „Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe“

Zwischen Ideal und Wirklichkeit

Von Rüdiger Bernhardt

Brigitte Reimann

Post vom schwarzen Schaf.

Geschwisterbriefe

Herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher

Berlin, Aufbau Verlag 2018,

416 S., 24,70 Euro

Die „Neubaustadt“ war ein beliebtes Thema in Literatur und bildender Kunst der DDR, das unterschied sie von anderer deutschsprachiger Literatur und Kunst. Das Thema begleitete den Aufbau nach 1949 bis zum Zusammenbruch des Staates 1989 gleichermaßen, literarisch wurden die Entwicklungen meist andeutend vorweggenommen. Brecht, Kuba und andere beschrieben Neubaustädte, die dem Ideal entsprachen, das nur ansatzweise wirklich wurde. Brigitte Reimann (1933–1973) – neben ihr Rainer Kirsch, Hans-Jürgen Steinmann und Alfred Wellm – schilderte das Leben in der Neubaustadt in seinen Widersprüchen und signalisierte den Verlust der Ideale. Der Roman „Franziska Linkerhand“, der in Hoyerswerda spielt und zu einem Kultroman geworden ist, handelt 1962 in der Blütezeit der Bitterfelder Ideen. Bei Brigitte Reimann dominierte anfangs die Vorstellung von der „sozialistischen Wohnstadt“, in der ethische und künstlerische Werte entwickelt werden sollten. Der Fragment gebliebene Roman ist berühmt geworden – und mit ihm seine Schöpferin –, weil in ihm Entwurf und Verwirklichung, Ideal und Reduktion gleichermaßen zu finden sind. Die Entstehung des Romans erstreckte sich von 1962 bis zu Reimanns Tod 1973. Das ist auch der Zeitraum der „Geschwisterbriefe“ in der Familie Reimann, die nun in einer Auswahl der Jahre 1960 bis kurz vor Brigitte Reimanns Tod 1973 veröffentlicht wurden. Es ist die Zeit, in der der 13. August 1961 zu bitteren Schicksalen in den deutschen Staaten führte: Familien wurden getrennt, Freundschaften zerbrachen und politische Entscheidungen wurden grundsätzlicher. Brigitte Reimann hielt die Entscheidung für eine „Maßnahme, die eigentlich schon längst fällig gewesen wäre“ (19.8.1961) und bleibt, auch als es ihr nach 1970 gesundheitlich immer schlechter geht und sie sich bei monatelangen Krankenhausaufenthalten quält, bei dem von ihr „gewählten Land“, trotz seiner Mängel. Doch schränkte sie ein: „Protest ist natürlich blödsinnig, solange man selbst nichts Besseres zu bieten hat“. In welchem Staat wäre das anders. Und Anerkennung gebührt Brigitte Reimann für ihre Offenheit. Die Arbeit an „Franziska Linkerhand“ nimmt großen Raum ein, bereits am 28.11. 1962 steht in einem Brief an die Schwester Dorothea, dass sie aus einem Gespräch im ZK der Partei „eine Menge Ideen für (ihren) Roman nach Hause geschleppt“ habe. Die Freundschaft mit Hermann Henselmann, dem Chefarchitekten von Ostberlin, wird in einem eigenen Briefwechsel dokumentiert, spielt hier für die Kenntnisse über den Bau von Neubaustädten eine Rolle. Sie bewundert Henselmann, „schillernd wie Mephisto“. Gegen Ende der Briefsammlung beschrieb sie ihren verzweifelten Kampf gegen den Tod und für den Abschluss des Romans.

Auffallend ist die intensive Beziehung der Schriftstellerin zur politischen Führung des Staates, besonders zu Otto Gotsche, Schriftsteller und Sekretär des Staatsrates. Bei Schwierigkeiten ging sie den direkten Weg zu ihm und fand Unterstützung. Sind es schwierigere Probleme, wie eine Einreise des geflohenen Bruders, werde sie „das beim ZK regeln“. Das ist einer der Hinweise, es gibt deren in dem Band sehr viele (Stipendien, Arbeitsaufenthalte in Künstlerheimen usw.), welche besondere Rolle die Literatur im politischen und gesellschaftlichen Leben der DDR spielte. Im Übrigen dokumentieren diese Briefe eine außergewöhnliche Familienbindung, für die der „Familienschrieb“, ein vom Vater entwickelter Rundbrief an alle Familienmitglieder, zum Dokument wurde. Vieles vom Privaten erscheint unauffällig, auch für das Leben der Brigitte Reimann. Aber im Kontext der vielen von ihr geführten Briefwechsel ist er eine lesenswerte Ergänzung, nicht nur zu den anderen Briefwechseln, u. a. mit Christa Wolf, die auch in diesem Band mehrfach erwähnt wird, sondern auch zu Brigitte Reimanns literarischem Werk. Der nicht umfangreiche Briefwechsel mit dem Bruder Ludwig Reimann in dem Band zeigt die politische Haltung der Autorin, die an jugendlichen Idealen Abstriche machen musste, die dem Staat kritisch begegnete, aber nie ihre Weltanschauung verriet. Der Bruder dagegen studierte in der DDR, machte in Rostock das Staatsexamen und ging unmittelbar darauf in den Westen. Von moralischer Ehrbarkeit zeugte das kaum. Lutz und Brigitte waren die Grundlage für die Erzählung der Reimann „Die Geschwister“ (1963), in der es der Schwester gelingt, den Bruder von der Flucht zurückzuhalten. Ein zweites Mal bekommt dieser Wilhelm in „Franziska Linkerhand“ seine Züge. Der wirkliche Bruder aber floh und maßte sich an, Brigitte Reimann politisch zurechtzuweisen und bei persönlichen Begegnungen „ausfallend“ zu werden: „… er sagte, man sollte alle diese Leute ‚von da oben‘ umlegen“. Immerhin hatte er kurz nach seiner Flucht aus der DDR noch „Verräterkomplexe“, aber den „moralischen Tiefpunkt“ überwand er schnell und pries danach überschwänglich seine westliche Freiheit. Dass er die „Welt“ las und für „die beste deutsche Tageszeitung“ hielt, zeigte ihn als Gegner der Schwester: Seine Briefe nach dem 13. August weisen ihn als einen Scharfmacher aus, der z. B. die FDJ mit der SS verglich. Brigitte Reimann fand klare Worte über seinen Verrat: „Er wollte vor der Partei (gemeint ist die SED, R. B.) nicht katzbuckeln, er wird es vor seinen Kapitalisten tun müssen.“ Die Autorin, die mit „Ankunft im Alltag“ ein für die DDR namengebendes Werk geschrieben hatte, „Ankunftsliteratur“, rechtfertigt die Politik der DDR und verteidigte ihr Recht, sich „geistig mit seiner Republikflucht auseinanderzusetzen“. Jahrelang wechselt man keine Briefe mehr. Später wurde der Briefwechsel wieder aufgenommen, deutlich zurückhaltender, und vom Bruder vorsichtiger geführt. Verräter wurden von ihr grundsätzlich klar benannt: Nachdem sie Alfred Kantorowiczs „Deutsches Tagebuch“ (Bd.1, 1964) bekommen hatte, distanziert sie sich entschieden von dem ehemaligen Hochschullehrer der DDR, weil er seine „früheren Heiligtümer“ bespucke.

Brigitte Reimann unterschied im Übrigen zwischen subjektiver Enttäuschung über verlorene Utopien und objektiver Berechtigung politischer Maßnahmen. Das nicht unterschlagen zu haben, wie es oft geschieht, um die Autorin als Oppositionelle vereinnahmen zu können, ist ein Verdienst der Herausgeberinnen: Heide Hampel hat als langjährige Leiterin des Literaturzentrums Neubrandenburg mit dem Brigitte-Reimann-Archiv große Erfahrungen mit Werk und Person der Autorin. Dazu ist sie eine engagierte Publizistin. Angela Drescher hat sich als Lektorin verdient gemacht um Christa Wolf und Werner Bräunigs, auch um Brigitte Reimann. Wohltuend ist die objektive, denunziationslose Kommentierung. So heißt er über den 13. August 1961: „Am 13.8.1961 schloss die DDR-Führung in Übereinstimmung mit der Sowjetunion in Berlin die Grenze zu den drei Westsektoren.“

Literarisches kommt, abgesehen vom eigenen Schaffen, vergleichsweise wenig vor. Anna Seghers wird drei Mal erwähnt, Brecht nicht. Mit Wolfgang Schreyer verband sie seit 1955 eine intensive und lebenslange Freundschaft. Der Band erschien anlässlich eines Jubiläums: Brigitte Reimann wäre in diesem Jahr 85 Jahre geworden. Ihr Lebensprinzip war: „Man muss doch engagiert sein.“ Es steht in vielen Variationen in ihren Briefen.

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"Zwischen Ideal und Wirklichkeit", UZ vom 5. Oktober 2018



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