Russland und die fossile Energie – Teil 1

Zwischen Heizbedarf und ­tauendem Permafrost

Walter Reber

„Kommunismus = Rätemacht + Elektrifizierung“. Es war eine große Vision, die Lenin formulierte. Eine neue Gesellschaftsordnung und eine neue Energieform sollten das Fundament der Zukunft legen.

In Russland mit seiner riesigen Landfläche und oft weit auseinanderliegenden Siedlungen lag eine dezen­trale Energieversorgung nahe. 1920, also in der unmittelbar nachrevolutionären Zeit, gab es ein 200-köpfiges Wissenschaftlerkollektiv, eine Institution, die einen Plan mit dem Einsatz unterschiedlichster Energiequellen für die Energieversorgung der Sowjetunion vorschlug. Ein Kursker Erfinder, Anatoli Ufimzew, hatte schon 1923 eine Windkraftanlage entwickelt, die von der Regierung gefördert wurde. Im Februar 1931 ging das Kraftwerk – mit wenigen kW Leistung – in Kursk in Betrieb und produzierte bis in die 1950er Jahre Strom. Heute ist die Anlage nicht mehr betriebsfähig, aber noch immer erhalten.

Im Grunde aber verfolgte die Sowjetunion konventionelle Wege der Energieversorgung, allerdings mit einem hohen Anteil an Wasserkraft, diese sorgte für bis zu 20 Prozent der Energieversorgung.

Pläne zur Errichtung von Solarthermieanlagen blieben lange das, was sie waren: Pläne. Eine weltweit führende Geothermie-Anlage mit 5 Megawatt Leistung wurde erst 1966 auf Kam­tschatka in Betrieb genommen, eine ebenfalls führende Solarthermieanlage mit 5 Megawatt Leistung wurde auf der Krim installiert, ging aber mit der Sowjetunion unter.

1963 wurden große Erdölfunde in Sibirien gemacht und änderten das Entwicklungsmodell. Während im Westen in den folgenden Jahren wegen der Ölpreisentwicklung Effizienz zum Mantra der Kostenreduzierung wurde, schwamm nun die Sowjetunion und später die Russische Föderation in billigem Öl. Für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft möglicherweise mehr Fluch als Segen.

Und Lenins Vision steht immer noch zur Verwirklichung an.

„Der Temperaturanstieg in der Russischen Föderation während der letzten 44 Jahre erfolgte fast dreimal so schnell wie im weltweiten Durchschnitt“, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin 2021 auf einem Kabinettstreffen. Ausgedehnte Waldbrände, Überflutungen, der Einsturz einer Brücke der Transsibirischen Eisenbahn – der Klimawandel fordert auch in Russland seinen Tribut.

Dennoch sah sich Russland lange Zeit in einer Sonderrolle. Mit den kalten Wintern – und wegen seiner riesigen Landmasse ohne wärmespeichernde Ozeane – schien Russland von einem Temperaturanstieg sogar zu profitieren. Noch 2014 erklärte der Chefmeteorologe Alexander Frolow in einem Interview, der Klimawandel bringe Russland eine Reihe von Vorteilen, von der Seefahrt im Nordmeer bis zur Verringerung der Heizkosten und der Ausweitung der Landwirtschaft.

Nur wenige Jahre später betonten Vertreter des Instituts für Meteorologie und Klimatologie dagegen die negativen Folgen des Klimawandels – gerade für Russland: Weite Teile des Landes liegen in der Zone des Permafrosts. Also in Gebieten, in denen die Bodentemperatur ständig unter dem Gefrierpunkt liegt. Allenfalls in den Sommermonaten tauen die obersten Bodenschichten vorübergehend auf. Für Architekten, Ingenieure und Bauunternehmen haben diese Gebiete einen großen Vorteil: Es gibt ein festes Fundament, auf dem gebaut werden kann. So war es zumindest in der Vergangenheit.

Die Erwärmung dieser Gebiete (in Russland ebenso wie in Kanada) bedroht die Stabilität von Gebäuden, Straßen und Pipelines. Präsident Putin betont vor zwei Jahren, dass viele Ortschaften in Sowjetzeiten im Gebiet des Permafrosts gegründet wurden und es kein System der Kontrolle gibt, um den Zustand des Bodens zu überwachen. Der zuständige Minister sollte umgehend ein entsprechendes Gesetz vorlegen.

Das Auftauen des Permafrosts bedroht nicht nur die Stabilität der Infrastruktur. Die gebundene Biomasse würde als Treibhausgas CO2 an die Atmosphäre abgegeben und große Mengen gebundenes Methan – weitaus klimaschädlicher als CO2 – würden in die Atmosphäre entweichen. Zugleich führt die Erwärmung in den arktischen Gebieten zu globalem Konfliktpotential. Schon 2010 hatte der damalige Präsident Dimitri Medwedew gewarnt, die Anliegerländer würden ihre Forschungs- und Wirtschaftstätigkeit in der Arktis ausbauen – und selbst ihre militärische Präsenz.

Mit den steigenden Kosten der Schäden aufgrund des Klimawandels (bis zu 70 oder 100 Milliarden Rubel jährlich) steigt auch für Russland der Druck, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. So erklärte Putin im Rahmen der 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015, der CO2-Ausstoß solle bis 2030 auf 70 Prozent des Wertes zu Beginn der 1990er Jahre reduziert werden. Zudem wies er die Regierung an, eine Strategie für eine klimaneutrale soziale und wirtschaftliche Entwicklung Russlands bis 2050 auszuarbeiten.

Mit seinen CO2-Emissionen liegt Russland heute auf dem vierten Platz hinter China, den USA und Indien. Bezieht man die Emissionen allerdings auf die Zahl der Einwohner, liegt Russland nur auf dem 19. Platz (Deutschland: Platz 31).

Russland hatte das Kyoto-Protokoll 2004 ratifiziert und ihm damit zur Gültigkeit verholfen. Das Pariser Klimaabkommen jedoch traf in der russischen Wirtschaft auf heftigen Widerstand. Der Sondergesandte des russischen Präsidenten für Klimafragen, Alexander Bedritski, betonte, es brauche neue Mittel und Wege, die die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und nationale Besonderheiten berücksichtige – nicht einfach die Aufgabe der fossilen Brennstoffe.

Dennoch – im September 2019 ratifizierte Premierminister Medwedew mit seiner Unterschrift das Abkommen in einem abgekürzten Verfahren.

Es ist naheliegend, dass Russland, das einen beträchtlichen Teil seiner Wirtschaftsleistung und seiner Haushaltsfinanzierung aus dem Verkauf von fossilen Brennstoffen erzielt, keine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz spielt. Steuern und Verkaufserlöse von Gas, Kohle und Öl finanzierten zuletzt 45 Prozent des Staatsbudgets.

Teil 2 erscheint in der kommenden Ausgabe von UZ.

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"Zwischen Heizbedarf und ­tauendem Permafrost", UZ vom 10. März 2023



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