ver.di vor dem Bundeskongress – Delegierte erwartet hartes Arbeitspensum

Zwischen Aufbruch und Defensive

Von Herbert Schedlbauer

Vom 20. bis 26. September findet in Leipzig der 4. Ordentliche Bundeskongress der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) statt. Rund 1 000 Delegierte haben nicht nur über 1 345 Anträge zu entscheiden. Sie legen auch die Ziele und Aufgaben der zweitgrößten Einzelgewerkschaft für mindestens vier weitere Jahre fest.

Für Zündstoff wird die Einschätzung und der Ablauf der Streiks bei der Post und den Kitas sorgen. In beiden Arbeitskämpfen hat ver.di die Beschäftigten in unbefristete Streiks geführt. Um dann, jeweils zum Unverständnis vieler Kolleginnen und Kollegen, mit dem Postvorstand und dem Verband Kommunaler Arbeitgeber, weit unter den Erwartungen abzuschließen. Etliche sahen die Möglichkeiten der Gewerkschaft nicht ausgeschöpft, ein besseres Ergebnis zu erzielen.

Neben dem Widerstand gegen die imperialistischen Handelsabkommen TTIP, CETA und TISA (siehe hierzu unsere zeit Nr. 34) gibt es weitere zwanzig Antragsblöcke. Im Antrag A 108 unter der Rubrik „Gute Arbeit“ legt ver.di nunmehr nach mehreren Beschlüssen auf vergangenen Bundeskongressen ein Papier „Arbeitszeitgestaltung und Arbeitszeitverkürzung als tarifpolitische und gesellschaftspolitische Ziele“ vor. Allerdings ist in diesem Leitantrag von einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich keine Rede mehr. Statt einer Verkürzung der Wochenarbeit, will man eine Reduzierung der Jahresarbeitszeit. Auf 284 Zeilen wird versucht, ein „Arbeitszeitkonzept“ als neu darzustellen, was in Parteiprogrammen der SPD schon mehrmals in der Vergangenheit aufgetaucht war. Gemessen an der EU-Arbeitszeitrichtlinie, die immer noch die 48-Stunden-Woche vorsieht, wird durch den Leitantrag die Arbeitsverdichtung nicht beseitigt. Die jetzige Orientierung des Gewerkschaftsrats, eine Arbeitszeitverkürzung jährlich auszugleichen, beinhaltet die Gefahr weiterer Flexibilisierung zu Lasten der Beschäftigten.

Einfacher wird es auf dem Kongress beim gemeinsamen Vorgehen gegen das von der Bundesregierung beschlossene Tarifeinheitsgesetz werden. „Das Gesetz ist abzulehnen“ heißt es im B 053 Tarifpolitik. Der Antrag spiegelt das Ergebnis einer vor Ort guten und breiten Diskussion und von Beschlüssen auf allen Ebenen wieder. ver.di gehört zu den Gewerkschaften, die Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht haben. Auffallend auch, dass ver.di endlich die Abschaffung der Extremismusklauseln fordert.

In mehreren Bundesländern findet man in Tarifverträgen noch immer Berufsverbote, unterschrieben von der ÖTV im Bundesangestelltentarifvertrag (BAT). Sie sind heute noch in unterschiedlicher Ausprägung in den Nachfolgetarifverträgen des Öffentlichen Dienstes vorhanden.

Die Dienstleistungsgewerkschaft ist Mitglied in mehreren Initiativen, so auch im Bündnis „Umfairteilen“. Im Antrag D 002 fordert die Landesbezirkskonferenz Niedersachsen-Bremen einen Politikwechsel, soziale Gerechtigkeit statt Umverteilung von unten nach oben. Die Stärkung des Binnenmarktes statt Lohndumping und Sozialabbau. Unverständlich hier, die Antragsberatung (ABK) empfiehlt nur eine Annahme als Arbeitsmaterial zum Leitantrag des Gewerkschaftsrats. Der jedoch beschäftigt sich überwiegend mit der Wirtschafts-, Konjunktur- und Investitionspolitik zur Überwindung der Eurokrise.

202 Anträge beinhaltet der Antragsblock Sozial-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik. Dort macht Berlin-Brandenburg die Rücknahme der Rente mit 67 Jahren und die Wiedereinführung der Rente mit 65 Jahren (F 018) zum Schwerpunkt. Der Landesbezirk will die Einführung der „Rente mit 63“ als eigene Altersrentenart und nicht als zeitlich befristete Sonderregelung. Im gleichen Antragsblock finden wir auch die Forderung nach bezahlbaren Mietwohnungen. Kritisiert werden der Rückzug aus dem öffentlichen Wohnungsbau und die Privatisierung von kommunalen Wohnungen, die zu einer eklatanten Verschärfung auf dem Wohnungsmarkt geführt hat.

Auch diesmal wieder auf der Tagesordnung: die Durchsetzung eines politischen Streikrechts in der BRD. Inhalt der Anträge: ver.di soll auf allen Ebenen der Gewerkschaft und in Staat und Gesellschaft Diskussionen entwickeln. Um aus der gesellschaftlichen Defensive zu kommen, werden klare Beschlüsse auf dem Kongress nötig sein.

Ein weiterer Punkt ist die „Konsequente Vorgehensweise gegen Polizei-, Behördenwillkür und Demokratieabbau“. Der Antrag richtet sich gegen polizeiliche „Vorkontrollen“ bei einer Maidemonstration. 2014 wurden in Stuttgart Teilnehmer der Maikundgebung über längere Zeit an der Wahrnehmung ihres Demonstrationsrechts gehindert. „Zunehmend werden jetzt auch Gewerkschaftsveranstaltungen ins Visier genommen“, schreibt der Antragsteller und fordert die Gliederungen, Gremien und Vorstände von ver.di auf, den staatlichen Organen gegenüber unmissverständlich klar zu machen, dass deren rechts- und verfassungswidriges Verhalten nicht länger toleriert wird. Die Empfehlung der ABK „Nichtbefassung“ kann nicht akzeptiert werden, wie schon jetzt aus Delegiertenkreisen zu hören ist.

In Leipzig wird es arbeitsreich und kontrovers zugehen. Die Anträge beinhalten viele richtige Schlussfolgerungen, die jedoch nicht im Selbstlauf durchgesetzt werden. Dafür sind breite Diskussionen, Kampagnen und Aktionen in ver.di notwendig. Da, wo es hakt, wird man um Mehrheiten auf dem Kongress ringen und vor allem an der Basis weiterhin überzeugen müssen.

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"Zwischen Aufbruch und Defensive", UZ vom 18. September 2015



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