Prozess um Lübcke-Mord hat begonnen

Zweierlei Geständnisse

Die ersten fünf Prozesstage im Mordfall Walter Lübcke sind vergangen. Sie waren geprägt durch die Videoaufnahmen der drei Vernehmungen von Stefan Ernst. In der ersten hatte dieser ein Geständnis abgelegt, Lübcke geplant ermordet zu haben. Danach wechselte er den Verteidiger. Der neue Verteidiger, Frank Hannig, erklärte in der Zwischenzeit offen auf seinem YouTube-Kanal, dass der Rückzug des Geständnisses und die neuen Aussagen natürlich mit auf ihn zurückzuführen seien. Was genau hinter dem Anwaltswechsel steckt, wird noch zu ermitteln sein. Das zweite Geständnis erklärt den Tod Lübckes als Unfall. Er und Markus Hartmann, zu dem er ein „kollegiales Verhältnis“ gehabt haben will, der in den Diskussionen ein „Wortführer“ sei und hin und wieder aufstachele, so dass ihm der Verdacht komme, er sei vielleicht V-Mann des Verfassungsschutzes, wollten Lübcke schlagen. Im Gerangel löste sich dann angeblich der tödliche Schuss. Von den Prozessbeobachtern wird diese Tatvariante fast einhellig als die weniger wahrscheinliche eingeschätzt, auch der vernehmende Staatsanwalt erklärt sich als „unüberzeugt“ und geht weiterhin von einem politischen Attentat aus, das Ernst alleine begangen habe. Hartmann wird in der neuen Aussage tiefer in das Geschehen verwickelt. Im Gerichtssaal würdigen sie sich gegenseitig keines Blickes. Der Konflikt wird zwischen den Anwälten ausgetragen.

Die Familie des Mordopfers Lübcke ist weiterhin konsequent anwesend. Demnächst werden die Angehörigen allerdings von beobachtenden Nebenklägern zu Zeugen. Nach der Sommerpause soll Jan-Hendrik Lübcke befragt werden, der Sohn Walter Lübckes.

Die „Werteorientierung“ des Prozessauftakts hat sich ein wenig verzogen und ist der Sachlichkeit des Prozessgeschehens gewichen. Das Gericht hält dabei an den erschwerten Bedingungen für die Pressearbeit fest. Einen Antrag zu mehr Öffentlichkeit lehnte der Vorsitzende Richter Sagebiel ab, es solle kein „Schauprozess“ werden. Zu genaues Hinschauen und vor allem Hinhören ist auch wegen der sehr schlechten Qualität der Tonaufnahmen für die Presse schwierig, die hat immerhin kein Protokoll zum Mitlesen. Auf Seiten der Verteidigung überlegt man, in welcher Form die für Ende des Monats geplante Aussage von Stefan Ernst stattfinden soll. Man prüft derzeit das aus dem NSU-Verfahren bekannte Vorgehen der schriftlichen Aussagen. Das vermeidet allzu rasche kritische Nachfragen und ein „Sich-Verplappern“ in den Nachfragen der Anwälte der Gegenseite.

Diese ersten Sitzungen setzen bis dato alles das fort, was der Prozess–auftakt versprach. Bisher konnte man sich auf Stefan Ernst und/oder das Duo Ernst/Hartmann konzentrieren. Verbindungen zum NSU und zur organisierten neofaschistischen Szene wurden bisher abgestritten, auch wenn das wenig glaubhaft wirkt. Die UZ berichtet auf ihrem Blog über jeden Prozesstag und über Entwicklungen im inzwischen gebildeten Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag.

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"Zweierlei Geständnisse", UZ vom 10. Juli 2020



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