In der deutschen Hauptstadt existieren zwei politische Welten nebeneinander. Sichtbar wird die Spaltung seit mindestens zehn Jahren am „Tag der Befreiung“ und am „Tag des Sieges“: Ungeachtet der Hasstiraden auf Russland und die Sowjetunion gehen tausende Berliner aus Ost und West, hunderte Menschen, die in der UdSSR oder in einem ihrer Nachfolgestaaten geboren wurden, am 8. und am 9. Mai mit Blumen, Symbolen und Fotografien von Angehörigen der Roten Armee zu den großen sowjetischen Ehrenmalen im Treptower Park, in Tiergarten und in Schönholz. Der starke Andrang ist auch ein Erbe der DDR.
Den Stadtoberen hat das noch nie gepasst. Von Zeit zu Zeit verlangen die Springer-Zeitungen insbesondere das 1945 errichtete Ehrenmal in Tiergarten, dessen acht Meter hohe Skulptur eines bewaffneten Sowjetsoldaten von zwei T-34-Panzern eingerahmt wird, zu beseitigen. 2022 schaffte es eine CDU-Hinterbänklerin des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Satz in die Presse, dass „der Panzer in Tiergarten nicht mehr nur für die Befreiung Deutschlands vom Nazifaschismus, sondern für die aggressive, territoriale Grenzen und Menschenleben missachtende Kriegsführung des Putin-Regimes“ stehe. Senat und Bundesregierung winken bislang in solchen Fällen ab, weil es das Regierungsabkommen vom 16. Dezember 1992 zur Kriegsgräberfürsorge gibt. Sie tun aber alles, um das Gedenken zu behindern und zu verleumden.
In diesem Jahr mussten Besucher der Ehrenmale daher durch Polizeikontrollen, teilweise mit Leibesvisitationen. Am Treptower Park entstand eine lange Schlange, wie die „FAZ“ am 11. Mai berichtete. Sie erwähnte immerhin: „DKP-Anhänger halten ein Transparent mit der Aufschrift ‚Frieden mit Russland und China! Hochrüstung und Wirtschaftskrieg stoppen!‘.“ In Tiergarten erlebte ich, wie eine ältere russische Frau, die das Bild eines Rotarmisten im A5-Format mit sich trug, zurückgewiesen wurde: Abbildungen sowjetischer Uniformen waren laut der „Allgemeinverfügung“ der Berliner Polizei vom 8. Mai 6 Uhr bis zum 9. Mai 22 Uhr im Umfeld der Ehrenmale verboten. Das ist schon seit zwei Jahren so – diesmal hatten sich die amtlichen Erinnerungsschänder zusätzlich ausgedacht: „Das Abspielen und Singen russischer Marsch- bzw. Militärlieder (insbesondere aller Varianten des Liedes ‚Der heilige Krieg‘, Swjaschtschennaja woina) … sind untersagt.“
Der Text des Liedes von Wassili Lebedew-Kumatsch erschien am 24. Juni 1941 in der „Iswestija“, zwei Tage später hatte es Alexander Alexandrow vertont. Am Belorussischen Bahnhof in Moskau, wo Freiwillige an die Front verabschiedet wurden, erlebte es seine Uraufführung. Die deutsche Fassung von Stephan Hermlin sang Ernst Busch, sie war in der DDR auf Schallplatten verbreitet. Die erste Strophe und der Refrain lauten: „Steh auf, steh auf, du Riesenland!/Heraus zur großen Schlacht!/Den Nazihorden Widerstand!/Tod der Faschistenmacht!/Es breche über sie der Zorn/wie finstre Flut herein./Das soll der Krieg des Volkes,/der Krieg der Menschheit sein.“ Wer diesen antifaschistischen Text und die Melodie, die Flaggen und Symbole der Sieger von 1945 verbietet, weiß, was er macht und auf welche Seite er sich stellt. Die „Allgemeinverfügung“ ist Ausdruck der Bereitschaft in der deutschen herrschenden Klasse, das 1945 Gescheiterte zu wiederholen.
Beim traditionellen Empfang zum 9. Mai in der russischen Botschaft erlebten einige hundert Gäste nach dem Besuch der Ehrenmale ein würdiges Erinnern. Botschafter Netschajew erinnerte an die Befreier, eine Überlebende der Blockade Leningrads berichtete, was ihrer Familie geschehen war: Nur ihre Mutter, deren Schwester und sie selbst erlebten den Tag der Befreiung. Niedertracht draußen, noch geschützte Würde drinnen. So präsentiert sich das politische Zentrum des deutschen Imperialismus im Jahr 2024.