Die „Marxistischen Blätter“ und „Z“ liefern Beiträge satt zur politischen Ökonomie

Zwei mal 150 Jahre „Das Kapital“

Von Lucas Zeise

Z. Nr. 111, September 2017

Zum Erscheinen eines Weltbestsellers am 11. September 1867 mit Beiträgen von Phillip Becher, Janis Ehling, Jakob Migenda, Thomas Sablowski, David Salomon, Christian Stache, Sahra Wagenknecht, Michael Zander.

150 Jahre „Kapital“ – work in progress mit Beiträgen von Carl-Erich Vollgraf, Marcello Musto, Michael Heinrich, Ein Interview von Jerôme Skalski, Xy Yang/Lin Fangfang.

„Das Kapital“ und sein Gegenstand – Globalität und Vielfalt des modernen Kapitalismus mit Beiträgen von Elmar Altvater, Jürgen Leibiger. Karl Heinz Roth, Harry Harootunian, Konrad Lotter.

Interpretationen und Lesarten mit Beiträgen von Winfried Schwarz, Johann Friedrich Anders, Pertti Honkanen, Michael Klundt, Roberto Finelli, Morus Markard

Archiv: Eckart Spoo (1936–2016): Marx an der Wand hörte schweigend zu (1967)

Berichte und Buchbesprechungen

Marxistische Blätter 5_2017:

Das Kapital – Nicht nur für Einsteiger mit Beiträgen von Georg Fülberth, Eike Kopf, Thomas Kuczynski, Karl Reitter (Österreich), Alexander B. Voegele, Holger Wendt

Weitere Themen u.a.: Trump, Deutschland und die EU; Diesel-Fahrverbot; KP-Unterstützung für Corbyn; Kommunistischer Parteitag in Südafrika; Frankreich nach der Wahl; Digitalisierung im Gesundheitswesen; Clara Zetkin – Kommunistin und Frauenrechtlerin; Geschichtspolitik der Partei „Die Linke“; Albano Nunes (Portugal), Demokratie und Sozialismus; Oktoberrevolution in der Diskussion

Veranstaltungsankündigung:

Gedenken an Prof. Dr. Jürgen Kuczynski

Historisches Zentrum Wuppertal

Museum für Frühindustrialisierung – Engels-Haus

Engelsstraße 10/18, 42281 Wuppertal, Tel. 0202–5634375

Samstag, 14. Oktober 2017

11.00 Uhr: Geburtshaus in der Jaegerstraße 16, 42117 Wuppertal:

Musikalischer Beitrag

Grußworte: Andreas Mucke, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal

Ute Oberste-Lehn, Eigentümerin des Hauses Jaegerstraße 16

Prof. Dr. Thomas Kuczynski, Berlin

Feierliche Enthüllung der Gedenktafel

Musikalischer Beitrag

12.00 Uhr: Historisches Zentrum

Kurzer Gang durch den Engels-Park mit Erläuterungen der Vorhaben zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels 2020 durch Dr. Eberhard Illner, Leiter des Historischen Zentrums

Begrüßung und Umtrunk im Ausstellungsraum des Museums für Frühindustrialisierung

Dokumentation einiger Publikationen von Jürgen Kuczynski mit Einführung von Dr. Dirk Krüger

Vortrag von Prof. Dr. Georg Fülberth, Marburg: Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Nachdenken über Jürgen Kuczynski.

14.00: Gemeinsames Mittagessen

Beide marxistischen theoretischen Zeitschriften in der Bundesrepublik, sowohl die „Marxistischen Blätter“ als auch „Z“, haben ihre aktuellen Ausgaben dem 150. Jubiläum des Erscheinens von Marx‘ ersten Band des „Kapital“ gewidmet. Keine ganz einfache Aufgabe, gilt es doch eines der wichtigsten Bücher der bisherigen Menschheitsgeschichte zu würdigen. Da ist es vernünftig, bescheiden zu bleiben und sich auf das zu konzentrieren, was einem wichtig erscheint. Die Marxistischen Blätter (MBl) haben das meiner Meinung nach besser gelöst. Das Thema wird mit sechs Aufsätzen abgehandelt, die alle im engeren Sinne mit Marx‘ politökonomischem Hauptwerk zu tun haben. Vier davon sind wirklich lesenswert:

Holger Wendt stellt in „Politische Ökonomie vor Marx“ den Stand dieser jungen, erst mit dem Auftauchen des Bürgertums entstehenden ökonomischen Wissenschaft klar dar. Die klassischen Ökonomen Petty, Quesnay, Smith und Ricardo haben, wie er resümiert, die Arbeitswertlehre, die Klassenstruktur der Gesellschaft, die Verteilung des Reichtums und einiges mehr begriffen. Marxisten sollten wie Marx selber auf diesen Erkenntnissen aufbauen, zumal die heute gelehrte akademische Volkswirtschaftslehre diese Erkenntnisse ängstlich vermeidet.

Georg Fülberth präsentiert unter dem Titel „Bewegte Wirkungen“ eine Geschichte der Kapitalrezeption bis heute. Der kurze Text konnte schon in der „UZ“ vom 21. 7. des Jahres gelesen werden. Fülberth weist gegen Ende auf die an den Universitäten im deutschsprachigen Raum ziemlich populäre „Neue Marx-Lektüre“ hin, welche „vom so genannten ‚Arbeiterbewegungsmarxismus‘ nichts hält“. Hauptvertreter dieser „Lektüre“ ist heute Michael Heinrich. Seine Schrift „Kritik der politischen Ökonomie“ ist inzwischen in der 13. Auflage erschienen. Karl Reitter, Wien, befasst sich speziell mit dieser Interpretationsrichtung des „Kapital“. Sie konzentriert sich laut Reitter ausschließlich auf die sachlogischen Gesetze des Kapitalismus und des Wertgesetzes und blendet dagegen das Historische, die Sozialgeschichte, die Entstehung und die Vergänglichkeit dieser Produktionsweise aus. Letztlich ließen sich ihre Interpretationen nicht mit den Aussagen von Marx vereinbaren, schreibt Reitter und weist das an einigen Stellen nach.

Thomas Kuczynski, Berlin, geht in „Work in progress – ‚Das Kapital‘“ ziemlich ins Detail. Er schildert, wie Marx mit dem Stoff der politischen Ökonomie gerungen hat, und erläutert anhand von Briefen und den verschiedenen Vorworten, dass auch „Kapital, Band I“ nie vollendet worden sei und von dem „gesagt werden kann, sie sei eine Ausgabe …, die dem letzten Willen des Verfassers entsprochen hätte“ (S. 56). Die Mühen, die Marx hatte und die er sich speziell mit der französischen Ausgabe des Werkes machte, nimmt Kuczynski zum Anlass, sich darüber zu wundern, warum Marx den Terminus „Arbeitswert“ im ganzen Kapital, Band I, nie verwendet hat. Er hätte es tun sollen, denn das ist es, was er meint, ist Kuczynski sich sicher und rät, „den Terminus ‚Wert‘ durch ‚Arbeitswert‘ zu ersetzen“. (S. 66) Das ist, mit Verlaub, eine ziemlich schlechte Idee. Dass die „Substanz“ des Wertes, wie Marx schreibt, die Arbeit ist, rechtfertigt nicht, in der Benennung den Wert auf diese Substanz zu reduzieren. Der „ökonomische“ (im Unterschied etwa zum moralischen oder ästhetischen Wert einer Sache, einer Ware) erscheint eben notwendigerweise als Tauschwert und das ist zur Beschreibung des gesellschaftlichen Verhältnisses der Warenproduzenten und Warentauscher zueinander ebenso grundlegend wie die Tatsache, dass sich der Wert in Arbeitszeit bemisst.

Zwei eher entbehrliche Aufsätze enthält dieser Schwerpunkt der MBl, der den Titel „Das Kapital – nicht nur für Einsteiger“ trägt. Die Autoren sind Eike Kopf, Jena und Peking, mit „Marx‘ Kapital – eine konstruktive Kritik“ und Albert B. Voegele mit „Kapitalismus und Marx‘ Lösung‘. Beide Beiträge waren wohl mehr für die Einsteiger gedacht. Dazu aber ist Kopfs Beitrag zu unsystematisch, und Voegele macht sich anscheinend gar nicht Mühe, die Marxschen Theorien, ihren Kern oder einen wichtigen Aspekt auch nur darzustellen.

Das Schwerpunktthema in „Z“ ist, wie gesagt, sehr viel umfangreicher. Darüber, wie Marx mit seinem Werk kämpfen musste, berichten Carl-Erich Vollgraf, Berlin, und Marcello Musto, Toronto. Besonders ersterer tut das mit viel Witz, so dass der Leser einen Einblick in die Misere des Alltags bei Marxens und in die chaotische und zugleich pedantische Arbeitsweise des großen Autors erhält. Dazu werden gestellt eine Übersicht über die Rezeption des „Kapital“ in China von Xy Yang und Lin Fangfang, beide bei der Marx-Engels-Lenin-Abteilung des Zentralen Übersetzungsbüros beim ZK der KP Chinas, sowie ein Interview aus der französischen Zeitung „L‘Humanité“ mit dem in den MBl, aber auch in dieser Z-Ausgabe (Johann-Friedrich Anders: Die Neue Marx-Lektüre – Anspruch und Wirklichkeit) gescholtenen Michael Heinrich, der einige, meist durchaus vernünftige Sätze zum „Kapital“ von sich gibt. Allerdings auch fragwürdige, wie z. B. „Das kapitalistische Wachstum führt mit Notwendigkeit zu einem überproportionalen Wachstum der Finanzmärkte“. (S. 72)

Unter den Aufsätzen, die sich mit dem Gehalt der Marxschen Ökonomie und seiner Anwendung hier und heute befassen, ragt der von Jürgen Leibiger, Radebeul, „Die geschichtliche Tendenz der Akkumulation“ heraus. Leibiger zeichnet die Entwicklung der Lage der Arbeiterklasse vis-à-vis der Bourgeoisie nach und stellt fest, dass es Perioden gab, in denen die Arbeiterklasse ihre Position, gemessen auch an der Mehrwertrate, verbessern konnte. Er weist darauf hin, dass es „keine lineare Tendenz der Akkumulation“ gibt. Zentralisation und Konzentration des Kapitals fänden in unterschiedlichen Formen mit entsprechend divergierenden Ergebnissen statt. Leibiger meint, dass zwar die Eigentumsfrage „die zentrale Frage für eine Gesellschaftstransformation“ bleibe, dass es aber angesichts der Differenziertheit der Eigentumsverhältnisse nicht mit einer einfachen Enteignung getan sein werde.

Bei vielen anderen im Heft versammelten Aufsätzen stellt sich allerdings die Frage, warum sie hier unbedingt abgedruckt werden mussten. Das gilt beispielsweise für Elmar Altvaters, Berlin, „Kritik der politischen Ökonomie am Plastikstrand“. Altvater wiederholt hier die Aussage, dass das neue Erdzeitalter, das vom Menschen geprägte „Anthropozän“, bereits begonnen habe und dass dies eine Folge des Kapitalismus ist. Richtig und schlimm genug. Einen Grad unpassender noch ist „Impulsgeber Marx“ von Karl Heinz Roth. Roth „verbessert“ Marx und wirft ihm eine „viel zu eng gefasste(n) Konzeptualisierung des Arbeitsbegriffs“ (S. 124) vor. Schließlich gebe es ja noch die Reproduktionsarbeit, die bei Marx „unsichtbar“ werde. Sie wird in der Tat im Zusammenhang mit der Analyse des Kapitals nicht eigens ausgeleuchtet. Roth besteht auf dem „Wert der Natur“ (S. 125) und entdeckt neu die „ungleichmäßige und ungleichgewichtige Entwicklung des Kapitalismus“ (S. 129).

Zu einer ähnlichen Erkenntnis kommt der Aufsatz von Harry Harootunian, New York, „Globalität, Ungleichmäßigkeit und Geschichte: Überlegungen zur Logik der Subsumtion“. Auch er entdeckt völlig neu, dass „kapitalistische Entwicklung überall universalen Gesetzmäßigkeiten“ folgt, dass diese aber „durch überkommene lokale Umstände vermittelt“ (S. 141) werden. „Wir wissen von Trotzki, aber auch von Marx, dass es Ungleichmäßigkeiten zwischen den Nationen gibt“, weiß der Autor. Er ist sicher nicht der einzige, aber einer von nicht ganz so vielen, die einfache Wahrheiten geschwollen ausdrücken können.

Ähnlich schwierig zu lesen und zu verstehen ist „‚Zeit‘ und ‚Beschleunigung‘ in Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie“ von Konrad Lotter, München. Hier wird zunächst referiert, dass steigende Produktivität der Arbeit Beschleunigung bedeutet und dass sich diese Beschleunigung nicht auf die Produktion im engeren Sinne beschränkt, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Sodann fragt der Autor, sich dabei auf Moishe Postone („Time, Labor and Social Domination“, New York 1993) berufend, ob die Beschleunigung nicht Folge sondern Ursache, ja „Wesen des Kapitalismus“ (S. 158) sein könne. Angeführt wird ein Werk von Hartmut Rosa (Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, Frankfurt 2005), der die Beschleunigung als einen „autonomen Prozess“ auffasst, „der seine Ursache in sich selbst hat“. Schließlich stellt der Autor die bewegende Frage „Ist Entschleunigung ein Weg zur Überwindung des Kapitalismus?“ (S. 162), zitiert zum zweiten Mal Walter Benjamin und entlässt seine Leser, ohne die Frage beantwortet oder wenigstens als unsinnig dargestellt zu haben.

Ein besonderes Schmankerl der Marx-Verballhornung bietet der Aufsatz von Roberto Finelli, Rom, „Marx‘ Kapital als Krise und Überwindung des Historischen Materialismus“. Hier wird ganz in dem Stil, der der „Neuen Marx-Lektüre“ vorgeworfen wird, das „Kapital“ in Stellung gebracht gegen den Historischen Materialismus des frühen Marx, der natürlich seinerseits schön eng und verfälscht dargestellt wird. Das Kapital erscheint dagegen bei diesem römischen Idealisten als geistiges Subjekt und „prozessierender Wert“. (Dabei handelt es sich vermutlich um die schlechte Rückübersetzung des „sich verwertenden Wertes“ aus dem Italienischen.) Den idealistischen Purzelbaum schlägt der Autor, wenn er feststellt, dass sich im Übergang vom „Fordismus“ zum „Postfordismus“ und seiner Informationstechnologien „die Konfrontation zwischen Kapital und Arbeitskraft nicht länger auf der Ebene des Körpers“ abspielt, „sondern auf der des Mental-Geistigen“. Ja das macht natürlich alles noch viel schlimmer, seufzt da der Geistesarbeiter.

Das „Z“-Heft zum „Kapital“ wollte erkennbar die ganze Breite der marxistischen Diskussion einfangen. Das ist Programm. Es hat aber auch Nachteile. Wenn man alles, was in Hochschulen und ihrem Umfeld geschrieben und gesagt wird, ernst nimmt, kommt auch viel Unsinn mit zu Papier. Ein Lob zum Schluss: Vorzüglich und vergnüglich zu lesen war der Beitrag „Marx an der Wand hörte schweigend zu“ vom im Dezember 2016 gestorbenen Eckart Spoo über eine Konferenz 1967 in Frankfurt anlässlich des 100. Jahrestages des Erscheinens des Kapitals.

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"Zwei mal 150 Jahre „Das Kapital“", UZ vom 6. Oktober 2017



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