Geschichtsdeutung ist Klassenkampf – das bürgerliche Bild der Novemberrevolution

Zwei Linien, ein Ziel

Von Kurt Baumann

Unser Autor gehört zu den Herausgebern von:

Novemberrevolution 1918/19. Ereignis – Deutung – Bedeutung

Essen: Neue Impulse Verlag, 2018, 19,80 Euro

Plötzlich waren sie sich einig: Die „demokratischen Sozialisten“ Friedrich Ebert und Gustav Noske und die Hakenkreuz tragenden Freikorpskämpfer, die Monopole der alten und neuen Industrien und ihre politischen Vertreter, die völkischen Monarchisten vom Alldeutschen Verband und die sozialliberalen Parteien. Plötzlich verteidigten sie „die Demokratie“, nachdem Philipp Scheidemann die bürgerliche Republik ausgerufen und der Reichsrätekongress am 16. Dezember 1918 die Nationalversammlung einberufen hatte. Einig waren sie sich darin, diejenigen niederzuschlagen, die die Novemberrevolution über das erreichte bürgerliche-demokratische Stadium weitertreiben wollten.

Mit diesem Bündnis bürgerlicher Demokraten und Ultrareaktionärer hatte schon Friedrich Engels gerechnet. 1884 schrieb er an August Bebel: Im Moment der Revolution werde die sich radikal gebende bürgerliche Partei zum „letzten Rettungsanker der ganzen bürgerlichen Wirtschaft“. Dann „tritt die ganze reaktionäre Masse hinter sie und verstärkt sie: alles, was reaktionär war, gebärdet sich dann demokratisch. (…) Jedenfalls ist unser einziger Gegner am Tag der Krise und am Tag nachher – die um die reine Demokratie sich gruppierende Gesamtreaktion.“

1918 gruppierte sich die „Gesamtreaktion“ um die SPD-Führung – das machte den Mord an Luxemburg und Liebknecht möglich. Karl Kautsky assistiert dem frühzeitig und stellt für die Sozialdemokratie fest, der Grundwiderspruch sei nicht mehr der zwischen Kapital und Arbeit, sondern der zwischen Demokratie und Diktatur. Die Totalitarismustheorie erfährt ihre erste „Argumentation“. Passend dazu benennen sich die bürgerlichen Parteien um, konservativ verschwindet, „Volk“ und „Demokratie“ werden die neuen Bezugspunkte.

Vorbeugen durch Einbinden

Direkt nach der Revolution versuchten bürgerliche und sozialdemokratische Kräfte zu erklären, was in den Monaten von November 1918 bis ins Frühjahr 1919 eigentlich passiert war – und wie es dazu kommen konnte. Ludwig Elm zeichnet das in seinem Beitrag nach, der vor Kurzem in dem Sammelband „Novemberrevolution 1918/19. Ereignisse – Deutung – Bedeutung“ erschienen ist (Rezension in UZ vom 16.11.2018). Sozialliberale und Sozialdemokraten kamen zu dem Schluss, dass die bürgerliche Herrschaft im Kaiserreich nicht ausreichend in der Lage gewesen sei, die Volksmassen in ihr Regime einzubinden. Der Nationalliberale Ludwig Bergsträsser analysierte: Der Krieg habe eine demokratische Welle hervorgebracht, dem sei der preußische Obrigkeitsstaat nicht gewachsen gewesen – das habe die Revolution hervorgerufen. Bergsträsser gehörte zum „Arbeitnehmerflügel“ der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Er forderte, die Bevölkerung besser einzubinden – nur so könne einer neuen Revolution vorgebeugt werden.

Ähnlich argumentiert der Kaisersozialist und preußische Staatsminister Konrad Haenisch: Wäre das Volk weniger in Unwissenheit gehalten worden, hätte man offener, und nicht in Geheimrunden über die Kriegsziele gesprochen, hätte das Volk – ja, was? Die Kriegsziele sich zu eigen gemacht, wäre die Massenbasis des deutschen Imperialismus intakt geblieben, hätte von der Revolution abgesehen. Der revisionistische Flügel der Sozialdemokratie assistierte den Nationalliberalen bei der Analyse des November. Im Zweck der Analyse zeigt sich die Einigkeit von 1918 erneut: Es geht um die Verhinderung eines deutschen Oktober.

Worüber Offiziere weinen

Neben dem Geschichtsbild der demokratischen Konterrevolutionäre strickten auch die alten Reaktionäre an ihren Legenden. Für sie hatten die „Novemberverbrecher“ der „im Felde unbesiegten Armee“ den Dolch in den Rücken gestoßen. Zu den „Novemberverbrechern“ zählten diese Kreise nicht nur Liebknecht und Luxemburg, sondern auch die USPD und sogar die konkurrierende Kapitalfraktion der „neuen“ Industrien. Diesen Kreisen war bereits mit den Ansätzen zur Demokratisierung vom Oktober 1918 ihr traditionelles Bündnis zwischen Schwerindustrie und Junkern abhanden gekommen – die Basis ihrer alten Macht. Entsprechend blicken sie auf die Revolution zurück. Einen Eindruck für die Wut dieser Leute, dass statt ihrem Kaiser nun sozialdemokratische Emporkömmlinge regierten, vermittelt Albrecht von Thaer, damals Offizier im Generalstab der Obersten Heeresleitung. 1958 wurden seine Tagebücher veröffentlicht, darin berichtet Thaer von einer Unterhaltung mit dem OHL-General Erich Ludendorff: Ludendorff „trat in unsere Mitte, sein Gesicht von tiefstem Kummer erfüllt, bleich, aber mit hoch erhobenem Haupt. Eine wahrhaft schöne germanische Heldengestalt! (…) Er sei verpflichtet, uns zu sagen, dass unsere militärische Lage furchtbar ernst sei. Täglich könne unsere Westfront durchbrochen werden. (…) Zum 1. Mal sei der (Obersten Heeresleitung, OHL) von (Seiner Majestät dem Kaiser) bezw. vom Reichskanzler die Frage vorgelegt worden, was sie und das Heer noch zu leisten imstande seien. Er habe im Einvernehmen mit dem Generalfeldmarschall geantwortet: Die O. H. L. und das deutsche Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unmittelbar bevor. (…) Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlass mehr. Seit dem 8. 8. sei es rapide abwärts gegangen. Fortgesetzt erwiesen Truppenteile sich so unzuverlässig, dass sie beschleunigt aus der Front gezogen werden müssten. Würden sie von noch kampfwilligen Truppen abgelöst, so würden diese mit dem Ruf ‚Streikbrecher‘ empfangen und aufgefordert, nicht mehr zu kämpfen. Er könne nicht mit Divisionen operieren, auf die kein Verlass mehr sei.“ Ludendorff habe daraufhin den Kaiser „gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise in die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!“ Von Thaer beschreibt weiter: „Die Wirkung dieser Worte auf die Hörer war unbeschreiblich! Während (Ludendorff) sprach, hörte man leises Stöhnen und Schluchzen, viele, wohl den meisten, liefen unwillkürlich die Tränen über die Backen. Ich stand links neben dem Generalintendanten (General von) Eisenhart. Unwillkürlich hatten wir uns an der Hand gefasst. Ich habe seine fast kaputt gedrückt.“

Diese beiden Linien der Geschichtsdeutung ziehen sich auch durch die folgenden Jahrzehnte: Auf der einen Seite des bürgerlichen Spektrums diejenigen, für die die Revolution eine Folge des Versagens des alten Regimes ist, die Arbeiterklasse einzubinden. Auf der anderen Seite diejenigen, die den alten Militarismus mit ihrem Märchen vom Dolchstoß am Leben erhalten wollen. Vertreter beider Richtungen orientierten sich in der Folge mehr und mehr an Positionen einer „Volksgemeinschaft“ und wandten sich immer offener von der Republik ab. Für diejenigen, die sich am sozialliberalen Friedrich Naumann orientierten, sollte diese „Volksgemeinschaft“ ein Ausdruck der Demokratie sein. Für die klassisch-alldeutschen Reaktionäre war diese Vorstellung vor allem gegen die Republik gerichtet.

In ihrer Ideologie wie in ihrem Geschichtsbild knüpften die Nazis an die alldeutsche Agitation an. Hitler und Röhm organisierten über die Thule-Gesellschaft, aber auch über die Reichswehr, dass ihre antirepublikanische Orientierung mit ihrem Bild von der verbrecherischen Novemberrevolution verbreitet wurde.

Kritik und Einbindung

In den Anfängen der Bundesrepublik hatten alte Nazi-Kader das Sagen, das galt auch für die Geschichtswissenschaft. Auch die alten Historiker der Bourgeoisie kamen aus der Mottenkiste an die Hochschulen. Sie waren – und das war das Entscheidende – zuverlässige Antikommunisten. Ihre Quellen schöpften sie aus der Memoirenliteratur, aus der wir oben einen Teil angeführt haben.

Gegen diese Tendenzen regte sich im Rahmen der Studentenbewegung, aber auch einer stärkeren eigenständigen Bewegung der Arbeiterklasse demokratischer Protest. Seit 1963 die Marxistischen Blätter, seit 1968 die SDAJ und die DKP als wieder legale kommunistische Partei, die VVN, linke Gewerkschafter und fortschrittliche Intellektuelle sahen Geschichte als Auftrag an, um in der Gegenwart das Handeln zu organisieren. So, wie in diesen Jahren die verschiedenen linken Strömungen über Orientierungen stritten, stritten sie auch über das Bild der Novemberrevolution.

Um den SDS und aus diesem heraus bildete sich eine Linie, die einen „dritten Weg“ zwischen Sozialdemokratie und „orthodoxem Kommunismus“ finden wollte. Diese Linie des „linken“ Antikommunismus richtete ihre Aufmerksamkeit häufig auf die Räte als Allheilmittel und spielte sie gegen die kommunistische Partei aus. Vielfach wurde auch die Tradition der KPD besetzt, um sie maoistisch oder trotzkistisch gegen die Kommunisten zu wenden. Ein besonderes Beispiel soll hier dargestellt werden: Peter von Oertzen schrieb 1953 eine „kritische“ Dissertation zur Rolle der Räte in der Novemberrevolution, stand in entschiedener Opposition gegen den Rechtskurs der SPD in Godesberg 1959 – und setzte als niedersächsischer Kultusminister die Berufsverbote der sozialliberalen Koalition mit um. Schließlich richteten die sich nicht gegen Räte, sondern gegen Kommunisten.

Zwar dem dritten Weg folgend, aber in die Kämpfe der kommunistischen Partei eingebunden, an deren Seite stehend und ihre Positionen, trotz durchaus heftig geführter Auseinandersetzungen nicht verratend, sind Personen wie Wolfgang Abendroth oder Ernst Bloch zu nennen. Beide waren als antifaschistische Widerstandskämpfer Teil der Anti-Notstands-Bewegung und der Kämpfe gegen die Berufsverbote. Sicher war es auch die Stärke der Partei, diese Positionen einzubinden, aber ihre Aufrichtigkeit ist dennoch zu betonen. Beide arbeiteten übrigens zu Rosa Luxemburg und zur Novemberrevolution.

Als Auftakt für die bürgerliche Geschichtsschreibung zur Novemberrevolution wird oftmals das Buch des Journalisten Sebastian Haffner gesehen. Dessen Buch, 1969 unter dem Titel „Der Verrat“ erschienen, griff Positionen und Erkenntnisse der marxistischen Geschichtsschreibung auf, ohne sie allerdings mit der entsprechenden Parteilichkeit zu analysieren oder die Gegenwartsorientierung beizubehalten. Haffners Buch war ein Fortschritt gegenüber den bisher vorherrschenden bürgerlichen Deutungen, gegenüber den sich dem Marxismus zuwendenden Studenten aber eine ebenso einbindende Strategie.

Turn, turn, turn

In veränderter Form sehen wir die alten Richtungen der bürgerlichen Geschichtsdeutung auch heute. Die heutige postmoderne Richtung bedient sich an Versatzstücken von der Frankfurter Schule bis hin zu Nietzsche. Gemeinsam mit ihren irrational-völkisch-alldeutschen Vorgängern haben sie den „Verzicht auf Erkenntnis, Geschichte und Fortschritt“ (Robert Steigerwald). In der postmodernen Variante verschwimmen heutzutage die aggressiv-massenfeindliche und die nationalliberal-integrierende in den sich durch die diversen „Turns“ hindurch windende Entwicklung zur absoluten Beliebigkeit.

Aber auch die nationalliberale Sicht, dass eine funktionierende Kapitalherrschaft die Arbeiterklasse einbinden muss, hat ihre Nachfolger von heute – auch im Blick auf die Novemberrevolution. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hat vor zehn Jahren ein Theaterstück über den Aufstand der Matrosen in Kiel geschrieben, in diesem Sommer gab er seine Sicht auf 1918 im Interview mit „Frankfurter Allgemeine Quarterly“ zum Besten. Zum Grün-Sein gehört es, innerlich zerrissen zu sein – Romantiker Habeck hat natürlich Sympathien für die aufständischen Matrosen. Aber eben auch für Gustav Noske: Der habe sich in Kiel „an die Spitze des Aufstandes gestellt, um ihn dann einzudämmen. Er hat Struktur in das Chaos gebracht, die Revolution abgewürgt und damit das Schicksal der SPD und Deutschlands entschieden“. Noske habe die alten Eliten eingebunden – aus guter Absicht, um die Ordnung zu sichern und Hunger zu vermeiden. Da kann der Ex-Landes- und Möchtegern-Bundesminister sich einfühlen.

Lenin erinnert daran, dass Wissenschaft etwas Parteiliches ist: „Keinem einzigen dieser Professoren, die auf den Spezialgebieten … der Geschichte … die wertvollsten Arbeiten liefern können, darf man auch nur ein einziges Wort glauben, sobald er auf Philosophie zu sprechen kommt“, sagt Lenin. Manchmal, fügen wir hinzu, lügen sie auch in ihren Spezialgebieten.

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"Zwei Linien, ein Ziel", UZ vom 23. November 2018



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