Zum Internationalen Frauentag

Zwei Frauen, zwei Klassen

Mesut Bayraktar

Im Juni 2024 bin ich nach 14 Jahren wieder in meine Geburtsstadt gezogen, eine alte Industriestadt im Bergischen Land. Immer wenn ich den Fuß vor die Tür setze, sehe ich jemanden von früher. Dann staune ich jedes Mal, was 14 Jahre bedeuten können: Stillstand, Absturz, Verwandlung.

An einem späten Nachmittag sah ich meine Tante. Erst als ich ihr Gesicht erkannte, hob ich die Hand. Sie lächelte. Sie erzählte mir, dass sie vorhin die Flure und Klassenzimmer in einem Gymnasium geputzt habe. Das war ihr Job. Früher hatte sie Büros in Versicherungsgebäuden und davor die Verkaufshallen in Autohäusern geputzt. Sie fragte, ob ich Hunger hätte. Bevor ihr Mann von der Werkstatt komme, müsse sie ohnehin noch das Abendessen zubereiten. Ein anderes Mal, sagte ich. Sie gehört zu jenen, bei denen die 14 Jahre Stillstand bedeuteten.

100303 Mesut - Zwei Frauen, zwei Klassen - Frauendiskriminierung, Frauenpower, Frauenunterdrückung, Internatinaler Frauentag, Klassengesellschaft, Stillstand - Wirtschaft & Soziales
Mesut Bayraktar

Im selben Zeitraum las ich, dass die CDU-Politikern Ursula von der Leyen abermals Präsidentin der Europäischen Kommission werden wollte. Bürgerliche Journalisten schwärmten einmal mehr über die siebenfache Mutter. Frauen könnten zugleich Super-Mutter sein und Karriere machen. Dass diese Erzählung nichts mit der Klassenrealität von Millionen proletarischer Frauen wie meiner Tante zu tun hat, ist das eine. Das andere ist das Schweigen darüber, wer die Haus-, Sorge- und Erziehungsarbeit im Hintergrund wirklich leistete und leistet. Die Emanzipation bürgerlicher Frauen in den letzten 60 Jahren vollzieht sich auf dem Rücken der Frauen aus der arbeitenden Klasse – darunter viele mit Mi­grationsgeschichte.

Doch die arbeitende Frau hat auch mit der kapitalistischen Ungleichheit der Geschlechter in ihrer eigenen Klasse zu kämpfen. Frauen arbeiten länger als Männer. Sie verdienen weniger. Frauen leisten mehr unbezahlte Care-Arbeit, etwa in der Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. Frauen sind stärker armutsgefährdet als Männer, mit dem Alter wird der Unterschied größer. Ein Leben als Frau ist auch eine enorme Bürde aus Stress und Verantwortung, umgeben von männlicher Gewalt.

Ich fragte meine Tante nach ihrer Gesundheit. Kürzlich wurde sie an ihrer Hüfte operiert. Beim Zuhören dachte ich: Erst wenn auch Frauen wie meine Tante als gleichberechtigte Kampfgefährten in die Reihen eintreten, erst dann wird eine klassenlose Gesellschaft in greifbare Nähe rücken. Es waren doch immer die Mütter, die Frauen, die Tanten, die in großen Revolutionen als Erste auf die Barrikaden gingen und als letzte die Barrikaden verließen. 1789 stürmten sie ein Staatsgefängnis in Paris, um die Könige auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. 1871 formierten sie sich am selben Ort zu Frauenbataillonen, um 72 Tage die Pariser Commune zu verteidigen. 1917 waren sie es, die in Moskau eine neue Ära der Menschheit einleiteten, gegen Hunger, Krieg und Ausbeutung. Ohne sie wäre der sozialistische Aufbauversuch in einem Teil Deutschlands ab 1949 von vornherein ein Traum geblieben. Sie kämpften in den Wäldern Kubas gegen eine Diktatur und kämpfen noch heute in Havanna gegen den US-Imperialismus. Es sind dieselben Frauen, die in Lateinamerika, in Afrika, in Asien das Rückgrat der internationalen Arbeiterklassen bilden.

Meine Tante winkte mir aus dem Bus zu. Sie ist dreifache Mutter. Um zu überleben, geht sie jeden Tag putzen. Kaum jemand nimmt Notiz von ihrer Existenz.

Von der Leyen hingegen ist weitere fünf Jahre EU-Kommissionspräsidentin. Personen wie sie verkörpern die Unterdrückung der proletarischen Frau, ob sie nun sieben- oder zwanzigfache Mütter sind. Sie trägt dafür Sorge, dass meine Tante weiter Schulen putzen muss.

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"Zwei Frauen, zwei Klassen", UZ vom 7. März 2025



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