Vier Minuten lang fährt und schwenkt die Kamera durch menschenleere, aber sichtlich bewohnte Zimmer einer großen Wohnung, Regale voller Bücher, Papierstapel, Alltagsgegenstände, dann zunehmend Alben und Kontaktbögen, Fotogerät, eine Dunkelkammer. Die Person, deren Umfeld dies alles war, ist daraus offenbar verschwunden. Doch der Film lässt dem Zuschauer ausreichend Zeit, ihre Atmosphäre, ihr gewesenes Leben in sich aufzusaugen, bevor ihn eine Kommentarstimme informiert: „Abisag Tüllmann starb am 24. September 1996. Drei Tage später nahmen wir ihre Wohnung auf.“ Wer war diese Frau mit dem seltsam alttestamentarischen Vor- und dem so deutschen Nachnamen? Und wer ist die, die da so forsch wie forschend in die Intimsphäre der Toten eindringt und dann fast entschuldigend ergänzt: „Wir waren 30 Jahre lang befreundet“?
Dass aus jenen Aufnahmen erst heute, fast zwanzig Jahre später, ein Film geworden ist, kann man getrost als Indiz für die Gründlichkeit und Behutsamkeit nehmen, mit der sich die Regisseurin Claudia von Alemann ans Werk gemacht hat. Das Ergebnis ist ihr 92-minütiger Filmessay „Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann“, der nun ins Kino kommt. Die Freundschaft der beiden reicht zurück in die wild bewegte zweite Hälfte der 1960er Jahre, von der ersten Begegnung in Oberhausen bei den gegen „Papas Kino“ rebellierenden Filmemachern, ersten Reisen in das um seine Unabhängigkeit ringende Algerien, über die Massenproteste gegen die Notstandsgesetze, den Frankfurter Häuserkampf und die Frauenemanzipationsszene, die beide je mit ihren künstlerischen Mitteln begleitet und verarbeitet haben, von Alemann als streitbare und politisch engagierte Dokumentarfilmerin und Tüllmann als stets präsente Fotojournalistin, deren Gespür für den richtigen Augenblick ihr auch in der großbürgerlichen FAZ, der Fotoagentur Magnum und in renommierten Fotogalerien Aufträge und Anerkennung eintrug.
Die Nähe der beiden Frauen mit der Kamera zu einander ist jederzeit spürbar, doch Alemann entgeht der Gefahr, sie zu sehr in den Vordergrund zu rücken, holt sich stattdessen Auskünfte über ihre Freundin auch bei deren zum Teil weit prominenteren Kolleginnen, die in höchsten Tönen Tüllmann als Magierin, Perfektionistin oder „Zauberin mit der Kamera“ beschreiben und ihren ungeheuren Fleiß loben. Dazwischen vertieft sich der Film in Tüllmanns Fotobände „Großstadt. Frankfurt am Main“, „Betrifft: Rhodesien“, ihre Serien über Romakinder in Avignon und ihre umfangreiche Sammlung mit Porträtfotos von Prominenten aus Politik, Literatur, Musik und Kunst. Tüllmanns Kamera ist bei den politischen Aktionen immer mitten drin, und die Dynamik dieser Bilder steht in spannendem Kontrast zur Ruhe und Intimität ihrer Porträts. Verblüffend vielfältig sind wiederum die Porträts, in denen Tüllmanns Kolleginnen und Freundinnen immer neue, oft irritierende Aspekte der stillen, aber hellwachen Magierin festgehalten haben.
Entstanden ist so nicht nur ein intimer Abschied unter Freundinnen, sondern zugleich eine Art Bilderkompendium jener vier Jahrzehnte, die Tüllmanns Oeuvre umfasst, und wer im Rausch der vielen makellosen Schwarzweißbilder sich auf das Wiedererkennen eigener Erfahrungen einlässt, wird Alemanns Film wie einen Zeitraffer durch die eigene Vergangenheit erleben. Für Zuschauer der jüngeren Generationen, für die dies alles ferne Geschichte ist, wären Einblendungen der Namen der Gezeigten vielleicht eine Hilfe zum Verständnis und zum leichteren Zugang. Alemann hat auf solche Krücken allerdings konsequent verzichtet, wohl auch, weil damit das Rauschhafte der Bilderflut verloren ginge. Mehr noch: sie schafft gerade den Tüllmann-Fotos noch größere Aufmerksamkeit durch die waghalsige Musik des Komponisten José Luis de Delás, der mit seinen radikalen, schrillen Neutöner-Klängen einlullenden Rausch erst gar nicht aufkommen lässt. Ein doppeltes Wagnis, dem man sich unbedingt aussetzen sollte!