Der Rabbinersohn und Sekretär des ZK der SED Albert Norden hatte 1965 mit einem Paukenschlag den Paravent des Stillschweigens durchschlagen, hinter dem in Westdeutschland Altnazis auf systemischen Strickleitern vom braunen Sumpf in staatstragende Ämter aufgestiegen waren. In der DDR-Hauptstadt präsentierte er der Weltöffentlichkeit mit einem Braunbuch fast zweitausend Namen von Politikern‚ Militärs, Beamten aus Justiz, Diplomatie, Polizei und Verfassungsschutz, die als Nazi- und Kriegsverbrecher überführt waren. Mit einem halben Jahrhundert Verspätung stellten dann auch Schriften wie „Das Amt und die Vergangenheit“ oder „Staatsschutz im Kalten Krieg“ jene personellen Nazi-Verstrickungen als eklatanten Gründungsmakel der westdeutschen Republik heraus. Jüngst tut das David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe – Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien“. Er schildert, wie die Quandt-, Flick- oder Oetker-Imperien Hitlers Weg in die Diktatur ebneten, ihre eigene Macht durch „Arisierungen“ und Zwangsarbeit ausbauten, woraus sich bis heute exorbitante Besitzstände der Erben und nebenbei erkleckliche Spenden an kapitalfreundliche politische Parteien speisen.
Auch der späte Klartext liefert dem Lernwilligen zukunftsrelevante Bilder. Aber die müssen sich gegen jene verharmlosende, beschwichtigende Gemütsruhe behaupten, mit der die bürgerlichen Apparate hierzulande faschistische Spuren lesen. Bundeswehrkasernen benannt nach Nazi-Generälen, NSU-Morde lange als Clankämpfe abgetan, nazistische Exzesse bei Polizei und Bundeswehr abgewiegelt, Wirtschaftsdynastien mit Nazi-Stammbaum enteignungslos und moralisch kaum behelligt am Markt hofiert … Der Zweck heiligt die Verdrängung, lautet wohl die Parole.
Solches Appeasement ist kein neues und auch kein typisch deutsches Phänomen. Es diente beim Münchener Abkommen 1938 dem britisch-französischen Verrat ebenso als Feigenblatt wie dem bürgerlichen Europa bei der versagten Hilfe für die Spanische Republik im Kampf gegen den Franco-Faschismus. Auch bemäntelte es im heraufziehenden Kalten Krieg den amoralischen Pragmatismus der Westallianz, sich bei der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im Nachkriegseuropa sowie zur Eindämmung der jungen Volksdemokratien altfaschistischer Expertise zu bedienen.
Eine solche Beschwichtigung hört man gerade wieder von der Politikerriege des „Wertewestens“ und ihren medialen Lautsprechern, wenn nazistische Umtriebe in der Ukraine zerredet werden sollen. Wie immer man zum Krieg in der Ukraine steht, der dort gewachsene Einfluss profaschistischer Ideen und Kombattanten ist evident. Beim Maidan-Putsch im Februar 2014 agierten bewaffnete Nazi-Kämpfer auf dem Platz. Als die russischsprachige Bevölkerung in den Regionen Donezk und Lugansk für unabhängige Republiken votierte, kühlte ukrainischer Nationalismus sein russophobes Mütchen an 14.000 getöteten und zehntausenden verletzten Zivilisten. In Odessa erschlug und verbrannte der rechte Mob 48 Bürger, die gegen das Verbot ihrer russischen Muttersprache demonstrierten. Die Verehrung für Bandera, den antisemitischen Nazikollaborateur und Kriegsverbrecher, ist inzwischen Staatsräson. Jagd auf Oppositionelle begeht der Inlandsgeheimdienst SBU längst gemeinsam mit Nazis des „Rechten Sektors“ oder der „Asow-Bewegung“, die von sich nicht zu Unrecht behauptet, ein „Staat im Staate“ geworden zu sein. Paramilitärische Gruppen terrorisieren straffrei Regierungsgegner, kritische Journalisten und ethnische Minderheiten. Und nun? Schwamm drüber? Der Zweck heiligt die Verdrängung? Offenbar ja, denn in unseliger Tradition liest der „Wertewesten“ Spuren des Faschismus nach politischer Opportunität. Wann dämmert es europäischer Vernunft, dass von der Leyen & Co. der EU gerade eine untragbare Last aufbürden?