„Wollen wir zusammen gewinnen oder getrennt verlieren?“ Diese Frage stellte François Ruffin, Abgeordneter der französischen Nationalversammlung für La France insoumise (LFi), am Abend des 9. Juni. Präsident Emmanuel Macron hatte gerade die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen am 30. Juni und 7. Juli verkündet. Damit kommt Macron einer Forderung aus den Reihen des Rassemblement national (RN) nach.
Die drei faschistischen Parteien RN, Reconquête und Union Populaire Républicaine (UPR) hatten bei der EU-Wahl zusammen fast 40 Prozent der Stimmen geholt. Die Liste Besoin d’Europe, auf der Macrons Partei Renaissance antrat, bekam mit weniger als 15 Prozent der Stimmen nicht einmal halb so viele wie der RN. Mit der Neuwahl riskiert Macron, seine dünne Mehrheit in der Nationalversammlung an den RN zu verlieren.
Eine „verrückte Wette“ sei das, schrieb die Tageszeitung „L’Humanité“. Macron ist noch bis 2027 im Amt, ein drittes Mal darf er nicht antreten. Womöglich bezweckt er mit der wahrscheinlichen Regierungsübertragung an den RN nach der Parlamentswahl eine „Selbstentzauberung“ der Faschisten bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Tatsächlich dürfte Macron mit einer faschistischen Mehrheit in der Nationalversammlung gut leben können: Außen-, Verteidigungs- und Europapolitik kontrolliert in Frankreich ohnehin der Staatspräsident, und seine geplanten Angriffe auf die letzten Reste des Sozialstaats würden leichter durchführbar sein. Auf Macrons Liste stehen unter anderem ein Großangriff auf die Arbeitslosenversicherung, eine „Reform“ des Arbeitsmarkts und drastische Haushaltskürzungen, um den EU-Grenzwert für Haushaltsdefizite bis 2027 wieder einzuhalten.
Zur Parlamentswahl 2022 waren LFi, die Französische Kommunistische Partei (PCF), die sozialdemokratische Parti socialiste (PS), Les Écologistes und diverse Kleinparteien zusammen als Neue ökologische und soziale Volksunion (NUPES) angetreten. Das Bündnis wurde zweitstärkste Kraft, eine gemeinsame Fraktion bildeten die beteiligten Parteien allerdings nicht. Zur EU-Wahl trat jede NUPES-Partei für sich an. Nur PS, LFi und Les Écologistes scheiterten nicht an der 5-Prozent-Hürde.
Diese Zersplitterung wollte Macron wohl mit seiner Überrumpelungstaktik ausnutzen: Keine Woche ließ er den Parteien für die Kandidatenaufstellung. „Und im Übrigen wünsche ich der Linken viel Glück dabei, sich zu vereinigen“, sagte er wörtlich. Damit könnte er sich verrechnet haben. Trotz erheblicher politischer Differenzen haben sich LFi, PS, Les Écologistes, PCF und mehrere Kleinparteien in Rekordzeit auf einen gemeinsamen Wahlantritt geeinigt. Unter dem Banner der Neuen Volksfront tritt jeweils nur ein Kandidat dieser Parteien je Wahlkreis an – in 557 der insgesamt 577 Wahlkreise.
Ein Sofortprogramm für die ersten 100 Tage nach einer Regierungsübernahme steht auch schon. Es sieht die Abschaffung von Macrons Rentenreform vor, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro pro Monat, einen automatischen Inflationsausgleich für Löhne und Gehälter sowie eine Deckelung der Preise für Nahrungsmittel, Energie und Treibstoff. Die Waffenlieferungen an die Ukraine möchte die Neue Volksfront fortführen. In dieser Frage unterscheidet sich die Neue Volksfront nur dahingehend von Macron, dass sie Blauhelmsoldaten statt französischer entsenden möchte.
Das Bündnis wird von den Gewerkschaftsverbänden CGT, CFDT, UNSA, F.S.U. und Solidaires unterstützt. Die CGT wenigstens unterstreicht, dass zuvorderst Macron die Verantwortung für den Rechtsruck trage. Durch seine „gewalttätige Sozialpolitik“ und die Umsetzung politischer Forderungen des RN habe er die Partei normalisiert. Diese Botschaft allerdings drang auf den Massenprotesten gegen Rechts am vergangenen Samstag mit 640.000 Demonstranten in ganz Frankreich kaum durch.
Macron war 2022 nur wiedergewählt worden, um Marine Le Pen als Präsidentin zu verhindern. Das Ergebnis der EU-Wahl spiegelt den Frust der Franzosen über Macrons Politik wider. Um Le Pen und Macron aufzuhalten, muss es der Neuen Volksfront gelingen, die Sozialproteste gegen Rentenreform, Arbeitslosenreform und Inflation mit den Protesten gegen Rechts zu verknüpfen.