Wenn es nur eines Arguments für die Fortdauer der Schweizer Neutralität bedürfte, dann lautete es: Jacques Baud. Mit seinen nüchternen Analysen erlaubt Baud einen sachlichen Blick auf den Ukraine-Krieg, profund entlarvt er die auf Verlautbarungen aus Kiew und dem NATO-Pressebetreuungsstab in Brüssel basierende Mainstream-Berichterstattung als gefährliche Kriegspropaganda. Gefährlich allen voran für die Ukrainer, die in einem sinnlosen Abnutzungskrieg zu Tausenden in den Tod getrieben werden. Im Unterschied zu eifernden Kriegstrommlern in Deutschland hat Baud als ehemaliger Oberst der Schweizer Armee militärische Expertise. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges und war für die NATO in der Ukraine tätig. Überdies ist er Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegführung, Terrorismus und Desinformation. Im Sommer ist im Westend Verlag die deutsche Übersetzung seines Buches zum Ukraine-Krieg erschienen: „Putin. Herr des Geschehens?“ Der Autor konfrontiert uns mit dem Grauen des Krieges und liefert eine ebenso ausgewogene wie unaufgeregte Analyse der Kampfhandlungen wie auch der Vorgeschichte. Seine detaillierten Antworten auf 43 selbst gestellte Fragen immunisieren gegen die auf uns in einem fort niederprasselnden NATO-Narrative zur angeblich notwendigen Fortführung des Krieges.
„Ich bin aufgewachsen in einer Gesellschaft, die Gewalt ablehnt, was sowohl das Handeln als auch das Denken betrifft“, schreibt Jacques Baud eingangs. „Ich verurteile Krieg.“ Er sei aber „Bürger in Uniform“, der den Einsatz von Gewalt akzeptiere und sogar als rechtmäßig betrachte, „wenn er erforderlich ist“. „Weit davon entfernt, die Entscheidung Wladimir Putins, die Ukraine anzugreifen, für richtig zu halten, denke ich nichtsdestotrotz, dass es sinnvoll ist, sich kritisch mit der Art und Weise zu befassen, wie wir diese Krise gemanagt haben.“ Man müsse kritische Fragen stellen: „Wer hat den Versuch unternommen, die systematische Bombardierung der Donbass-Bevölkerung durch ihre eigene Regierung zu verhindern und sie verurteilt? Wer hat die ukrainische Regierung bestraft, als sie die Wasserversorgung der Krim-Bevölkerung kappte?“ Solide führt der Autor aus, warum die westliche Strategie in Bezug auf Russland nicht zielführend und die hiesige Wahrnehmung von Russland „nicht hilfreich für die Lösung des Problems“ ist. Stark und wichtig sind die Kapitel zur vermeintlichen „russischen Bedrohung“, geleitet von den Fragen: „Ist die russische Politik die Ursache für die Krise im Donbass? Erfüllt Russland seine Verpflichtungen im Rahmen der Minsker Abkommen nicht?“ Von denen wissen wir mittlerweile, dass sie von der damaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten François Hollande vermittelt wurden, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung durch die NATO zu verschaffen. Weitere Fragen Bauds sind unter anderem: „Wollte Russland in die Ukraine einmarschieren? Wollte Wladimir Putin die Ukraine Anfang 2022 angreifen? Strebt Wladimir Putin danach, sich die Ukraine anzueignen oder sie zu zerstören?“ Hat der russische Präsident tatsächlich „die NATO gestärkt“, wie deren Generalsekretär und seine Lautsprecher in Deutschland unermüdlich behaupten?
Das Buch war ursprünglich als Antwort gedacht auf eine Spezialausgabe der französischen Fernsehsendung „C dans l’air“, etwa „Es liegt in der Luft“, die im Oktober 2021 unter dem Titel „Putin, Herr des Geschehens“ auf Kanal France 5 ausgestrahlt wurde. „Die Experten, die dort zu Wort kamen, waren so ignorant, so völlig empathielos und so arrogant, dass sie eine Denkweise symbolisierten, die 1945 ausgestorben zu sein schien.“ Mit dem 24. Februar 2022 sei sie zur Denkweise des Westens geworden. Baud hat den Inhalt seines Buches der veränderten Situation angepasst, die an dem Schema der Sendung orientierte Struktur aber beibehalten. Herausgekommen ist ein Vademecum, das die immergleichen Ukraine-Talksendungen im deutschen TV überstehen hilft.
Ziel seines Buches sei nicht, „zu einer bestimmten Politik oder einem bestimmten Land Stellung zu beziehen, sondern zu zeigen, dass wir unsere Politik nicht auf Vorurteile, sondern auf Fakten gründen sollten“. Baud verweist auf das Paradoxon dieses Jahres: „Diejenigen, die glauben, dass man Russland nur negativ bewerten darf, haben die Ukraine in die Katastrophe gestürzt. Indem wir Russland als schwach dargestellt haben, haben wir überzogene Erwartungen geweckt, für die die ukrainischen und europäischen Bürger nun teuer bezahlen müssen. Und zwar letztendlich für nichts.“ Vernichtender kann eine Bilanz kaum ausfallen. Wen wundert es, dass Baud nicht ein einziges Mal bei „Anne Will“, „Maybrit Illner“, „Markus Lanz“ oder einem anderen der gebührenfinanzierten TV-Transmissionsriemen eingeladen war. Nur die Leser etwa der „NachDenkSeiten“ sowie von „Zeitgeschehen im Fokus“ oder „Overton Magazin“ profitieren von seinem Wissen.
Anfang Oktober führte Baud in einem Interview zur Offensive Kiews aus: „Die Schwierigkeiten in der Ukraine sind massiv. Nicht nur auf der militärischen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene: Anpassung der Gesetze, die Verstärkung der Strafen gegen Deserteure, Verbot der Ausreise und so weiter. Das sind alles Indikatoren dafür, dass die ukrainische Verteidigung nicht so funktioniert, wie sie bei uns dargestellt worden ist. Diese Diskrepanz zwischen dem, was man heute sieht und hört, und dem, was man uns vor anderthalb Jahren erzählt hat, ist das Haupthindernis für die Lösung des Konflikts. Ganz konkret bedeutet das, unsere Medien sind die Architekten der Niederlage der Ukraine und die Ursache, dass keine Verhandlungslösung gefunden wird.“ Die USA, so Baud, „haben die Ukraine in die Offensive gegen die Russen einsteigen lassen, wohl wissend, dass sie verlieren wird. Das zeigt den Zynismus der westlichen Länder gegenüber der Ukraine.“ Ziel des Westens sei nicht ein Sieg der Ukraine, sondern die Niederlage Russlands.
Von der Art und Weise, wie wir eine Krise verstehen, hängt es ab, wie wir sie lösen, heißt es in Bauds Buch. Sein sachlicher Blick auf die Realität öffnet die Tür für eine vernünftige und ausgewogene Einschätzung des Krieges in der Ukraine, die so dringend notwendig ist wider das permanente Moralisieren und den entfachten Russenhass. Es ist bezeichnend für die viel beschworene „Zeitenwende“, dass ein Schweizer Ex-Militär mit seiner Kriegsanalyse mittlerweile friedenspolitisch links von vielen Linken, gewendeten Pazifisten und verwirrten Antifaschisten in diesem Land steht. Es ist höchste Zeit, zurück zu den Fakten und zurück zum Dialog zu kommen. Die Lektüre von Jacques Baud ist Anleitung für klares Denken und wirksame Schutzimpfung wider den täglichen medialen Stumpfsinn.
Jacques Baud
Putin. Herr des Geschehens?
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023, 320 Seiten, 26 Euro