„Der INF-Vertrag steht vor dem Aus, Russland rüstet auf. Was tun? Die Nato muss Einigkeit und Stärke demonstrieren – nur so lässt sich Putin beeindrucken“, kommentiert ein Paul Anton Krüger. Nein, nicht in der „Welt“, der „Bild“ oder einem anderen atlantischen Kampfblatt. Es ist die „Süddeutsche Zeitung“, die hier keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch ein unerschütterliches Feindbild. Die „Süddeutsche“ ruft da nicht allein nach Einigkeit und Stärke. Wenn es gegen „den Russen“ geht, funktionieren die Reflexe seit mehr als 100 Jahren.
Neu ist nicht einmal die Selbststilisierung als Friedensengel – bei gleichzeitiger Aufrüstung. Deutschland ist seit 1999 wieder ein Land, das Krieg führt. Bomben auf Belgrad, das Afrika-Korps, Panzer an der russischen Grenze, Stärke demonstrieren, alles nicht neu. Nur bis zum Hindukusch hatte es damals nicht gereicht. Aber da sind „wir“ ja nicht aus eigener Kraft.
Die Lage ähnelt in gewisser Weise jener ab Mitte der 1970er Jahre. Die USA hatten mit und nach Hiroshima begonnen, für einen Atomkrieg gegen den Sozialismus zu rüsten. Das Ziel, Vernichtung des Sozialismus zu fast jedem Preis, war klar benannt. Die Sowjetunion hatte das in den 1960er Jahren allerdings im Wesentlichen pariert. Die USA suchten den Ausweg im überraschenden Vernichtungsangriff, im Bau zielgenauer Mittelstrecken-, besser Erstschlagswaffen. Diese Waffen verlegten das Schlachtfeld, bei enorm kurzen Vorwarnzeiten, in die SU – aber auch ins Zentrum Europas.
Selbst zum unmittelbaren Ziel geworden, mobilisierte diese Bedrohung Hunderttausende in Europa und führte zum Abschluss des INF-Vertrages, mit dem zwar nicht alle, aber die landgestützten Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5 500 km verschrottet wurden.
Die USA hat nun den INF-Vertrag ausgesetzt. Er passt den US-Falken nicht mehr in ihr strategisches „Vorneverteidigungs“-Konzept zur Stabilisierung ihres Imperiums. Russland hat notgedrungen nachgezogen. Ebenso wie damals die SU. Die Lage ist für Russland seit dem Vorrücken der Nato an die russische Grenze, dem US-gesponserten Putsch in Kiew, der Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien, der Kündigung des ABM-Vertrages und des Wirtschaftskriegs gegen China qualitativ eine andere. Russland ist zum Hort des Bösen schlechthin erklärt worden. Es gibt nichts, woran es, insbesondere sein Präsident, nicht die Schuld trägt. Die USA rüsten erklärtermaßen zum Krieg gegen Russland.
Ziel der US-Strategen seit den 1970er Jahren ist der Aufbau einer Erstschlagskapazität. Zuerst gegenüber der SU, später, als sich auch Wladimir Putin nicht unterwürfig zeigte, auch gegenüber Russland. Die Rolle Russlands in Syrien dürfte diese Bestrebungen nicht gerade abgeschwächt haben. Die Erstschlagskapazität gegen Russland, das hat die Rede Putins am 1. März 2018 deutlich gemacht, ist allerdings so leicht nicht zu haben. Was allerdings die von ihrem militärischen Omnipotenzgefühl zwangsgesteuerten US-Strategen nicht hindert, es weiterhin zu betreiben. Mit gefährlichen Konsequenzen, wie man nun sieht.
Für Europa und speziell die Bundesrepublik bedeutet dies eine enorme Zuspitzung der atomaren Bedrohung. Schon hat sich das wichtigste U-Boot der USA in der EU, Polen, gemeldet und die Bereitschaft zur Stationierung von US-Raketen auf polnischem Territorium rapportiert. Andere werden folgen. Neu ist: Die Raketen sind schneller, die Vorwarnzeiten kürzer, die „Chance“ einer Fehlreaktion größer. Das atomare Pulverfass Europa wird gerade gut gefüllt. Wir dürfen auf ihm wieder Platz nehmen.
Die Haltung der deutschen Strategiezirkel ist bemerkenswert. Zwar hat das Trump-Bashing geholfen, die deutsch-europäischen Aufrüstungsprogramme zu legitimieren, aber die Distanzierung geht nicht soweit, den US-Falken gegen Russland in den Arm zu fallen. Im Gegenteil, Deutsch-Europa hilft bei der Befüllung des Pulverfasses nach Kräften mit – natürlich freiheitlich-demokratisch und regelbasiert. Wenn es gegen „den Russen“ geht, ist Deutsch-Europa der nibelungentreue Vasall der US-Kriegsmaschine geblieben. Und wenn wir dabei untergehen. Wieder einmal. Vielleicht diesmal endgültig.