Willi Gerns 2012 in den Marxistischen Blättern

Zur Parteikonzeption Lenins

Diese Partei unterscheidet sich folglich grundsätzlich vom Typus einer Partei, die sich auf den Reformkampf im Rahmen des Kapitalismus beschränkt oder aber unter der Devise einer „Transformation“ des Kapitalismus in eine von der kapitalistischen Profitlogik befreite Gesellschaft die Illusion verbreitet, sich ohne revolutionären Bruch mit den bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnissen in eine sozialistische Gesellschaft hin­einschleichen zu können.

Zugleich hat sich Lenin aber auch entschieden gegen ultralinke Strategien gewandt, die den Kampf um Reformen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und Angestellten noch im Kapitalismus bzw. das Ringen um Zwischenschritte zum Herankommen an den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus geringschätzen oder ablehnen. Die Strategie einer „wirklich revolutionären, wirklich kommunistischen Partei“ muss den Kampf um Reformen und Übergangsforderungen dialektisch mit dem Kampf um den Sozialismus verbinden, der nicht ohne den grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen zu haben ist. Dass diese Partei eine Partei der Arbeiterklasse sein muss, dass sie weltanschaulich nicht „pluralistisch“ sein kann, sondern auf das Fundament des Marxismus bauen muss, das waren für Lenin Axiome.

(…)

Die Gedanken von Marx und Engels weiterführend, entwickelt Lenin seine Konzeption der revolutionären Partei als dem bewussten und organisierten Vortrupp der Arbeiterklasse.

Dabei wollen wir (um Missverständnisse zu vermeiden) zunächst klären, was unter Vortrupp (Avantgarde) zu verstehen ist. Mit dem Begriff wurde in der Vergangenheit von regierenden kommunistischen Parteien ja nicht wenig Schindluder getrieben. Aus ihm wurde der „Führungsanspruch“, die Allwissenheit der Partei und die Bevormundung des ganzen gesellschaftlichen Lebens abgeleitet. Dieses Avantgardeverständnis hat wesentlich zur Entfernung der Partei von den Massen und damit zur Niederlage des realen Sozialismus beigetragen.

Hans Heinz Holz weist dagegen darauf hin: „Avantgarde-Sein heißt nicht, Führungsansprüche stellen. Wohl aber heißt es, an den gefährdetsten Punkten des Klassenkampfes zu stehen Die Avantgarde-Position ist kein Privileg, sondern eine Anstrengung, oft genug ein Opfergang.“ In diesem Verständnis waren die russischen (sowjetischen) Kommunisten während der Revolution, in den Schlachten des Bürgerkrieges und der ausländischen militärischen Intervention, in den schweren Jahren des sozialistischen Aufbaus und bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus in der Tat Avantgarde. Zur widersprüchlichen Realität der regierenden kommunistischen Parteien gehörte beides, Avantgarde-Sein im besten Sinne des Wortes und der Missbrauch dieses Begriffes.

Die Notwendigkeit der Partei als bewusster Vortrupp wird von Lenin vor allem in der Schrift „Was tun“ begründet. Darin weist er nach, dass das spontane Bewusstsein des Arbeiters kein proletarisches Klassenbewusstsein ist und dies auch nicht sein kann. Spontan drängt sich ihm die bürgerliche Ideologie auf, weil diese „ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt“. Bürgerliche Ideologie in Gestalt des Antikommunismus, der Sozialpartnerschaft und Klassenharmonie, der Heiligkeit des Privateigentums, der Unterordnung unter die kapitalistischen Besitz- und Machtverhältnisse, des „Hast du was, dann bist du was“ oder des „Sich selbst der Nächste sein“ wird den Arbeitern und Angestellten von der Wiege bis zum Grabe eingetrichtert, in der Schule, der Kirche, der Armee und heute vor allem durch die Massenmedien.

Dabei negiert Lenin keineswegs, dass elementare Formen des Klassenbewusstseins, „Keimformen der Bewusstheit“, sich aus Erfahrungen im Betrieb, im Lohnkampf und anderen Klassenauseinandersetzungen durchaus spontan entwickeln können. Sie sind als Ausgangspunkt für die Vermittlung sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse unverzichtbar. Die elementaren Formen des Klassenbewusstseins erfassen jedoch nicht ohne Vermittlung den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, den grundlegenden Klassengegensatz, die Erkenntnis der Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Lenin hebt hervor, „dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammen zuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m.“. Politisches Klassenbewusstsein kann nicht im Selbstlauf entstehen. Es kann „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“

Sozialistisches Bewusstsein, die höchste Form des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse, gründet sich auf den wissenschaftlichen Sozialismus, der von Wissenschaftlern, von Marx und Engels, ausgearbeitet und von Lenin und anderen Wissenschaftlern weiterentwickelt wurde. Er muss „auch wie eine Wissenschaft betrieben, d. h. studiert“ und den Arbeitern überzeugend vermittelt werden. Diese Aufgabe muss vor allem von der marxistischen Partei geleistet werden, die die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus und spontaner Arbeiterbewegung herbeiführt, deren Mitglieder „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ voraus haben.

(Auszüge aus Willi Gerns: „Zur Leninschen Parteikonzeption“, Marxistische Blätter 5-2012)


Wichtige Bücher von Willi Gerns

  • mit Robert Steigerwald: Probleme der Strategie des antimonopolistischen Kampfes, Frankfurt/Main, 1973
  • mit Günther Weiß und Robert Steigerwald: Opportunismus heute, Frankfurt/Main 1974
  • Für eine sozialistische Bundesrepublik. Fragen und Antworten zur Strategie und Taktik der DKP, Frankfurt/Main, 1976
  • mit Herbert Mies: Weg und Ziel der DKP – Fragen & Antworten – Zum Programm der DKP, Frankfurt/Main 1979
  • Antimonopolistischer Kampf heute, Frankfurt/Main, 1983
  • Mit Dieter Boris und Heinz Jung: Keiner redet vom Sozialismus. Aber wir. Die Zukunft marxistisch denken, Bonn 1992
  • mit Hans Heinz Holz, Thomas Metscher und Werner Seppmann: Philosophie und Politik – Festschrift für Robert Steigerwald, Essen, 2005
  • Revolutionäre Strategie in nichtrevolutionären Zeiten, Essen, 2015

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"Zur Parteikonzeption Lenins", UZ vom 11. Dezember 2020



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