Im Eulenspiegel Verlag liegt mit dem Band „Darf ich Genosse sagen?“ der Briefwechsel zwischen dem Historiker Kurt Gossweiler und Peter Hacks vor. Darin verhandeln sie grundlegende Fragen von Ästhetik und Sozialismus, von Scheitern, Konterrevolution und historischem Optimismus. Mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Auszug.
Brief von Peter Hacks an Kurt Gossweiler vom 30. April 1999:
Erst bei Gorbatschow ist klar, daß er, spätestens seit seiner Wahl zum Generalsekretär, den Imperialismus bewußt anstrebte. Alles Unheil, das in diesen Tagen über die Menschheit hereinbricht, ist die Folge dessen, was 1985 oder 1989 geschah. Die toten Serben gehen auf Gorbatschows Konto, wie die toten Iraker und die toten Kaukasusvölker auf sein Konto gingen, und man wird ihn unter die großen Massenmörder dieses Jahrhunderts zu rechnen haben. (Ich denke, daß die Breshnewsche Parteiführung Chrust-schows Weg in den Opportunismus fortsetzte, ohne es noch recht zu beabsichtigen. Der gesellschaftliche Raum, den sie schuf, war so gekrümmt, daß Gehirne wie Gorbatschows Gehirn sich bilden konnten).
Nun zur Klassenlage im Sozialismus. Ich will zu Ihrer längeren Ermahnung keine Gegenbrochure schreiben, vermag aber auch nicht, gar nicht zu antworten. Also ein paar Stichworte und Andeutungen.
Richtig ist, daß der Antikommunismus gern mit der „Apparatklasse“ arbeitet. Hieraus folgt nicht, daß, wer die Existenz einer Apparatklasse feststellt, ein Antikommunist sein müsse. Die Hauptsache ist einzusehen, daß eine neue Gesellschaftsformation, und gar eine eigentumslose, neue Klassen hervorzubringen nicht umhin kann.
Im Sozialismus, sagen Sie, gibt es zwei Klassen, die Arbeiter und die Bauern, und dann die Schicht der Intelligenz. Das, entschuldigen Sie, heiße ich toll getrieben.
Die „Schicht der Intelligenz“ stellt, als Direktoren, die Leiter der Produktion, als Wissenschaftler die Hauptproduzenten, und soll aber keine Klasse sein? Die Intelligenz im Sozialismus hat, das ist wie früher, kein Privateigentum. Aber neben ihr stehen inzwischen keine Eigentümerklassen mehr, die im Kapitalismus den hohen Gebrauchswert ihrer Arbeitskraft zur Unwichtigkeit herabminderten. Und soll keine Klasse sein?
Die Arbeiter im Sozialismus haben mit den Arbeitern im Kapitalismus eben noch den Namen gemein, im Grunde gar nichts. Sie produzieren keinen Mehrwert fürs Privateigentum, sie haben, unausgebeutet, wie sie sind, keinen Anlaß zur Revolution. Erzeugung von Gebrauchswert liegt ihnen am Herzen, Faulheit ebenfalls, und es steht nahezu in ihrem Belieben, welches dieser beiden Ziele sie verfolgen. (Es ist aus dieser Verlegenheit, daß wir vorzogen, das kitschige Wort Werktätige zu benutzen).
Der Parteiapparat soll eine Abteilung der Arbeiterklasse sein, keine Klasse für sich? Das Politbureau soll eine Abteilung des Parteiapparats sein, nicht der Vorstand der Gesellschaft? In allen sozialistischen Ländern gibt es Kleinbürger und in vielen Kapitalisten. Weder die noch die ähneln dem, was im Kapitalismus unter diesen Namen auftritt. Die Genossenschaftsbauern sind keine Bauern mehr. Mein Gott, es gibt nicht einmal mehr eine Differentialrente.
Die sozialistischen Klassen können nicht antagonistisch sein. Eine große Neuerung, aber es ist nicht ausgemacht, daß sie es auch sind. Selbstverständlich sind die neuen Klassen die Personnage der neuen Widersprüche des Sozialismus. Dieselben kann er einer Versöhnung zuführen, aber es ist nicht ausgemacht, daß er nicht an ihnen zugrundegeht.
Warum, fragen Sie mich, Spezialisten keine Marxisten sein könnten? Sie sollten sie selbst fragen. Ich nehme an, Naturwissenschaftler haben einen anderen Denkapparat als Gesellschaftswissenschaftler, und es war Ulbrichts größte und verdienstvollste und gescheitertste Anstrengung, aus Parteimenschen zugleich Fachmenschen und aus Fachmenschen zugleich Parteimenschen zu züchten. Er ließ seine Funktionäre den Doktor machen und seine Professoren ML studieren. Die einen wie die anderen, mit verschwindenden Ausnahmen, wollten das nicht. Ehe diese Klassen bereit waren zu verschmelzen, stürzten sie ihn lieber.
Meinen Vorschlag, Spezialisten das Maul zu verbieten und sie aber ökonomisch zu hätscheln, nennen Sie zynisch. Es ist die erklärte Linie der chinesischen Partei, und es ist lang her, daß ich gewohnt war, die zu unterschätzen.
Matthias Oehme (Hrsg.)
Kurt Gossweiler
Darf ich Genosse sagen? Der Briefwechsel mit Peter Hacks
Eulenspiegel Verlag, 224 Seiten, 12 Euro
Erhältlich im UZ-Shop