Das Grundgebot marxistisch-leninistischer Strategie und Taktik fasste Lenin in folgendem Ausdruck zusammen: „Konkrete Analyse der konkreten Situation.“ Man muss den Gegner kennen und studieren, bevor man sich Gedanken über die Strategie macht, mit der man ihn schwächen und schließlich schlagen kann. Das tun wir im Leitantrag. Dabei scheint mir noch ein nächster grundsätzlicher Gesichtspunkt der revolutionären Strategie entscheidend zu sein.
Lenin schreibt, dass die sozialistische Revolution eine „ganze Epoche von Klassenkämpfen“ ausmacht. Ich denke, die Vorstellung, dass man auf einen bestimmten Tag, auf eine bestimmte Stunde warten oder hoffen könne, in der man „auf einen Schlage den ganzen Dreck“ loswerden könne, ist nur ein scheinrevolutionärer Mythos. Lenin erklärte dies u. a. in seinen Anfang 1916 verfassten Thesen „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.“ Im Kapitel 2 „Die sozialistische Revolution und der Kampf um die Demokratie“ schreibt er: „Die sozialistische Revolution ist kein einzelner Akt, keine einzelne Schlacht an einer Front, sondern eine ganze Epoche schärfster Klassenkonflikte, eine lange Reihe von Schlachten an allen Fronten, das heißt in allen Fragen der Ökonomie sowie der Politik, Schlachten, welche nur mit der Expropriation der Bourgeoisie enden können.“
Lenin hob in diesem Zusammenhang besonders den engen Zusammenhang zwischen demokratischem und sozialistischem Kampf hervor: „Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der sozialistischen Revolution abzulenken oder auch nur diese Revolution in den Hintergrund zu schieben, zu verhüllen und dergleichen. Im Gegenteil, wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten.“ (LW 22, S. 145)
Wir dürfen keine Scheu vor demokratischen (Reform-)Forderungen haben – egal, ob wir sie als Bestandteile des antifaschistischen oder allgemein-demokratischen Kampfes formulieren. Marx und Engels sahen im Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten einen Kampf der Arbeiterklasse „für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat“. (F. Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, MEW 16, S. 77) Engels hat z. B. auch den Entwurf des im wesentlichen marxistischen „Erfurter Programms“ von 1891 der Sozialdemokratie kritisiert, weil in diesem die Forderung nach der demokratischen Republik fehlte. Und Lenin hat diese Rolle des demokratischen Kampfes für das imperialistische Stadium des Kapitalismus noch um einiges schärfer formuliert.
Die Dialektik des Kampfs für demokratische Rechte im Imperialismus und seiner Kombination mit dem Kampf um die sozialistische Revolution besteht darin, dass die Demokratie zwar vom Kapitalismus im Prinzip verstümmelt wird, dass aber gerade deshalb der Kampf für ihre Verwirklichung einen antiimperialistischen, d. h. antimonopolistischen Charakter erhält. Lenin sagt: „Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiete der politischen Demokratie zu beseitigen. … alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie sind beim Imperialismus nur unvollständig, verstümmelt und als eine seltene Ausnahme (…) ‚durchführbar‘. … Aber daraus folgt keinesfalls der Verzicht der Sozialdemokratie auf den sofortigen und entschiedenen Kampf für alle diese Forderungen. Das wäre ja nur in die Hand der Bourgeoisie und Reaktion gespielt. Ganz im Gegenteil, man muss alle diese Forderungen nicht reformistisch, sondern entschieden revolutionär formulieren, … den Kampf um jede demokratische Forderung bis zum direkten Ansturm des Proletariats auf die Bourgeoisie verbreiten und anfachen, das heißt ihn zur sozialistischen Revolution, die die Bourgeoisie expropriiert, führen.“ (LW 22, S. 146 f)
Die Komplexität eines revolutionären Prozesses ist also umfassender, als dass er in eine einzige Parole namens „Antikapitalismus“ gepresst werden könnte. Auch die Oktoberrevolution siegte bekanntlich nicht mit der Parole „Her mit dem Sozialismus“, sondern unter der Losung „Frieden, Land, Brot“. (…)
Es wäre nichts sinnloser, als sich den Verlauf der Revolution vorzustellen, als liefe sie nach einem für alle Zeiten gleichen „antikapitalistischen“ Schema ab. Bereits Lenin spottete über solche Versimplifizierungen, als er den linken Kritikern am irischen Osteraufstand 1916, die die Nasen über „zu viel kleinbürgerlichen Nationalismus“ gerümpft hatten, entgegentrat.
„Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Sozialismus‘, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Imperialismus‘, und das wird dann die soziale Revolution sein! …
Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.‘ …
Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. …, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhassten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‚entledigen‘ wird.“ (W. I. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, LW 22, S. 363 f.)
Worum geht es also wirklich um die Frage nach der Strategie gegen das Monopolkapital? Es geht um das Verständnis dafür; dass es keinen Gegensatz zwischen unserer antikapitalistischen, antifaschistischen und antimonopolistischen Orientierung gibt. Letztere ist die Konkretisierung der revolutionären antikapitalistischen Gesamtkonzeption der DKP.
Sie benennt deutlicher und genauer, mit welchen Machtstrukturen der moderne Kapitalismus heute ausgestattet ist und womit wir es dementsprechend als konkreten Hauptgegner zu tun haben.
Linke und rechte Kritik
Derzeit findet in einigen Teilen der Partei eine Diskussion darüber statt, dass die Einbettung der antimonopolistischen Strategie der Partei in die übergeordnete Frage, wie man den revolutionären Bruch mit dem gegenwärtigen Kapitalismus am raschesten vollzieht, nämlich indem man die konkreten Schritte und Maßnahmen skizziert, die diesen Bruch vorbereiten und auf ihn hinführen, schon seit dem Heraustreten unserer Partei aus der Illegalität 1968 eine Fehlorientierung gewesen sei.
Der Leitantrag stellt sich ganz bewusst die Aufgabe, die Konzeption der Suche nach „Etappen“ und der Benennung von möglichen „Übergängen“ hin zum revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und der Erkämpfung des Sozialismus in der Form der Erringung der politischen Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten fortzuführen und zu konkretisieren.
Das ist und war keine „Erfindung“ der DKP.
Schritte und Etappen im revolutionären Prozess zu bestimmen, gehört zum „Abc des Marxismus“. So sprechen bereits Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ davon, dass unter der damaligen politischen Herrschaft des Feudalismus der „erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“ sein werde. (Manifest der Kommunistischen Partei, Dietz Verlag Berlin 1988, S. 68)
Die DKP, die sich in der Kontinuität einer mit der Kommunistischen Internationale aufs engste verbunden gewesenen deutschen kommunistischen Bewegung sieht, hat nicht die akkumulierten Klassenkampferfahrungen vergessen, an die auf dem VII. Kongress der Komintern Georgi Dimitroff in seinem berühmten Referat über die Lehren aus dem Machtantritt des Faschismus erinnert hatte.
„Vor fünfzehn Jahren hat uns Lenin aufgefordert, unsere ganze Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, ‚Formen des Übergangs oder des Herankommens an die proletarische Revolution ausfindig zu machen‘. Möglicherweise wird die Einheitsfrontregierung in einer Reihe von Ländern sich als eine der wichtigsten Übergangsformen erweisen.“
Dimitroff grenzte diese strategische Konzeption nach zwei Seiten ab: gegenüber einer linkssektiererischen Ablehnung aller Versuche, den Weg zum Sozialismus genauer zu bestimmen und dies nur als eine reine Propagandaangelegenheit zu betrachten, stellte er fest: „Die ‚linken‘ Doktrinäre haben sich stets über diesen Hinweis Lenins hinweggesetzt, als beschränkte Propagandisten haben sie immer nur vom ‚Ziel‘ gesprochen, ohne sich je um die ‚Übergangsformen‘ zu kümmern.“
Gleichzeitig grenzte er sich aber auch gegen eine reformistische und rechtsopportunistische Verfälschung dieser Strategie ab: „Die Rechtsopportunisten aber versuchten, ein besonderes ‚demokratisches Zwischenstadium‘ zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats herzustellen, um in der Arbeiterschaft die Illusion eines friedlichen parlamentarischen Spazierganges aus der einen Diktatur in die andere zu erwecken. Dieses fiktive ‚Zwischenstadium‘ nannten sie auch ‚Übergangsform‘ und beriefen sich sogar auf Lenin!“
Dimitroff stellte klar, dass dies eine Verfälschung der Leninschen Orientierung sei: „Aber es war nicht schwer, diesen Schwindel aufzudecken: sprach doch Lenin von einer Form des Übergangs und des Herankommens an die ‚proletarische Revolution‘, d. h. an den Sturz der Diktatur der Bourgeoisie, und nicht von irgendeiner Übergangsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der proletarischen Diktatur.“ (G. Dimitroff: Bericht auf dem VII. Weltkongress der Komintern 2. August 1935. In Ausgewählte Schriften Band 2, S. 603)
Genau dies tut auch die DKP. In keinem ihrer programmatischen Dokumente ist von dem illusionären „3. Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus“ die Rede. Es ist entweder eine Unterstellung oder eine gedankliche Einengung und völlige Fehldeutung, wenn aus der Suche nach den heutigen realen Wegen zur sozialistischen Umwälzung ein Ausweichen, ein Hinhalten oder ein Umschiffen der Machtfrage konstruiert wird, wie es derzeit auch in Positionspapieren von einigen Hamburg-Harburger Genossen gemacht wird.
Die Bestimmung der nächsten möglichen Schritte im Herankommen und im Voranschreiten hin zum revolutionären Bruch ist nicht eine Abkehr vom sozialistischen Ziel und vom revolutionären Kurs, sondern soll das Gegenteil erreichen.
Wie kommen wir von der reinen Propagandaformel „Sozialismus“ unter den heutigen Bedingungen dazu, mehr und mehr arbeitende Menschen für diese Orientierung zu gewinnen, weil sie an ihren eigenen Erfahrungen ansetzen?
Wir sind mit dieser Überlegung und auch mit unserem Leitantrag ganz dicht bei Marx, Engels, Lenin und Dimitroff. Letzterer erörterte in seinem berühmten Faschismus-Referat von 1935 ebenso wie wir heute diese zentrale Frage;
„Warum maß Lenin der Form des Übergangs zur proletarischen Revolution eine so außerordentlich große Bedeutung bei? Weil er dabei ‚das Grundgesetz aller großen Revolutionen‘ im Auge hatte, das Gesetz, dass Propaganda und Agitation allein nicht imstande sind, den Massen die eigene politische Erfahrung zu ersetzen, wenn es sich darum handelt, wirklich breite Massen der Werktätigen auf die Seite der revolutionären Vorhut zu bringen, ohne das ein siegreicher Kampf um die Macht nicht möglich ist. Der gewöhnliche Fehler linker Art ist die Vorstellung, dass – sobald eine politische (oder revolutionäre) Krise entstanden ist – es genüge, wenn die kommunistische Führung die Losung des revolutionären Aufstandes aufstellt, damit die breiten Massen dieser Losung Folge leisten. Nein, sogar bei einer solchen Krise sind die Massen bei weitem nicht immer dazu bereit. Wir haben das am Beispiel Spaniens gesehen. Um den Millionenmassen zu helfen, möglichst schnell an Hand der eigenen Erfahrung zu lernen, was sie zu tun haben, wo der entscheidende Ausweg zu finden ist und welche Partei ihr Vertrauen verdient – dazu sind sowohl Übergangslosungen als auch besondere ‚Formen des Übergangs oder des Herankommens an die proletarische Revolution‘ notwendig. Sonst können die breitesten Volksmassen, die in kleinbürgerlichen demokratischen Illusionen und Traditionen befangen sind, sogar bei einer revolutionären Situation schwanken, zögern und irren, ohne den Weg zur Revolution zu finden, und dann die Schläge der faschistischen Henker ertragen.“ (G. Dimitroff: a. a. O., S. 603 f.)
Nicht zuletzt müssen wir heute nach der großen Niederlage des realen Sozialismus in den Jahren 1989 – 1991 noch stärker als vorher die Notwendigkeit und Machbarkeit des Systembruchs erläutern und die Erfahrungen dieser Niederlage in unserer strategischen Orientierung mit berücksichtigen. Deshalb müssen wir noch stärker von den realen Alltagserfahrungen der arbeitenden Menschen ausgehen, die die wachsende Kluft zwischen „uns“ und den Reichen und Superreichen, den Millionären und Milliardären, den großen Banken und Konzernen zwar spontan, aber nicht wirklich zielgerichtet ablehnen.
Auszüge aus dem Referat auf der theoretischen Konferenz über den Leitantragsentwurf für den 22. Parteitag der DKP am 30.9.2017 in Hannover. Die Langversion erscheint auf der Homepage der DKP news.dkp.de. Hans-Peter Brenner ist Stellvertretender Vorsitzender der DKP.