Vor 30 Jahren stritt China um die Zukunft des Sozialismus. Zu den Hintergründen des Tian'anmen-Zwischenfalls

Zu weit oder zu zaghaft?

Von Hannes Fellner

Experiment statt Trauma

1989 wollte die KPCh eine Bewegung wie in der Kulturrevolution verhindern

Die Kulturrevolution (1966 bis 1969 bzw. 1976) steht gleichzeitig für idealistischen Voluntarismus und diktatorische Maßnahmen durch die Gruppe um Mao Zedong in der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), aber auch für eine partizipative und demokratische Massenbewegung. Sie steht gleichzeitig für gesellschaftliches Chaos und Not, aber auch für ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritt. Und sie steht gleichzeitig für Chinas Besinnung nach innen und seine internationale Isolation nach dem Bruch mit der Sowjetunion, aber auch für den Beginn seines Aufstiegs zur Weltmacht.

Nach der vorpreschenden Tendenz der Kulturrevolution – von der KP China selbst ohne einseitige Schuldzuweisungen als „größter Rückschlag“ für Partei, Staat und Volk eingeschätzt – wurde ein neues, bis heute andauerndes Experiment begonnen. Dies war die unter Deng Xiaoping eingeschlagene Politik der „Reform und Öffnung“, die Mao Zedongs Idee der „Neuen Demokratie“ und Zhou Enlais Konzept der „Vier Modernisierungen“ (der Landwirtschaft, der Industrie, der Wissenschaft und der nationalen Verteidigung) aufgriff und als eine den Verhältnissen Chinas angepasste „Neue Ökonomische Politik“ verstanden werden kann.

Die meisten derjenigen, die 1989 zur Führung der KPCh gehörten, waren in der Kulturrevolution von Repressionen betroffen gewesen. Die antiautoritäre und bilderstürmerische Radikalität dieser Zeit war ihnen in Erinnerung geblieben, diese Erfahrung prägte die Art und Weise, wie die KPCh sich beim Tian’anmen-Zwischenfall verhielt.

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Als am 4. Juni 1989 die chinesische Armee gegen die Proteste in Peking vorging, hatten sich innere und äußere Widersprüche, Widersprüche innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und des ganzen Landes, zu einem komplizierten Knäuel gebündelt. Klar ist: Die Legenden, die westliche Medien über das „Massaker auf dem Tian’anmen-Platz“ verbreiten, sind bestenfalls zu kleinen Teilen wahr. Was hatte die Proteste ausgelöst, die zum „Zwischenfall vom 4. Juni“ führten, wie die Ereignisse im offiziellen chinesischen Sprachgebrauch heißen? Welche Richtungen stritten in der KPCh miteinander, welche Rolle spielten die imperialistischen Mächte?

Widersprüche der Reform

Im Laufe der 1980er Jahre wurden die ersten Ergebnisse der Reform- und Öffnungspolitik deutlich, die die KPCh 1978 begonnen hatte – im Positiven wie im Negativen. Die Wirtschaft entwickelte sich rasant, das allgemeine Lebensniveau verbesserte sich merklich, hunderte Millionen Menschen begannen aus der Armut aufzusteigen. Auf der anderen Seite nahm die Ungleichheit zu, verschärfte sich die Konkurrenz, grassierten Bürokratismus und Korruption unter Partei- und Wirtschaftskadern. Wie auch in früheren Zeiten wurden die Entwicklungen und weiteren Schritte in Gesellschaft und Partei kontrovers diskutiert, innerparteiliche Auseinandersetzungen aber nicht mehr über beziehungsweise mittels gesellschaftlicher Massenkampagnen wie in der Kulturrevolution ausgetragen.

Protest aus zwei Richtungen

Vor den Tian‘anmen-Protesten gab es – vereinfacht gesehen – in der chinesischen Gesellschaft zwei Tendenzen der Unzufriedenheit. Einerseits gab es diejenigen, denen die Reformen zu schnell beziehungsweise zu weit gingen. Dies waren vor allem die werktätigen Kernschichten der urbanen Zentren, deren Arbeits- und Lebensumstände sich trotz wirtschaftlichen Aufschwungs nicht verbessert oder sogar verschlechtert hatten. Andererseits gab es diejenigen, denen Reform und Öffnung politisch zu zaghaft und inkonsequent waren. Dies waren vor allem Teile der sich als Elite verstehenden urbanen Intelligenz und Studierenden sowie jener auch Teile der Parteikader umfassenden Kreise, die unmittelbar ökonomisch von den Reformen profitierten.

Innerhalb der Parteiführung der KP Chinas gab es Mitte der 1980 mehrere Tendenzen, die grob in drei Lager zerfielen und sich etwas verkürzt mit einzelnen Mitgliedern der Politbüros dieser Zeit in Verbindung bringen lassen. Erstens gab es jenes Lager um Chen Yun, das trotz Reformen an sozialistischer politischer Ökonomie und Ideologie festhalten wollte; zweitens jenes um Hu Yaobang, einem Protegé von Deng Xiaoping, das die Reformen auch unter teilweiser Aufgabe sozialistischer politischer Ökonomie und Ideologie weiter vorantreiben wollten; und drittens jenes um Deng Xiaoping, das versuchte, beide Lager auszutarieren.

Gegen Inflation, für Beteiligung

Zur Jahreswende 1986 auf 1987 kam es in mehreren Städten zu Protesten von Studierenden. Die Proteste waren klein – heute wird von westlichen Forschenden eingeschätzt, dass es sich um zwei Prozent der studentischen Population handelte – und ihre Forderungen sehr unterschiedlich: von Beschwerden bezüglich der steigenden Inflation über zu frühes Abdrehen der Lichter auf dem Campus bis hin zur Forderung von Beteiligung am politischen Prozess. Im Zuge der Proteste, welche die Parteiführung aufgrund der Erfahrungen in der von Studierenden entscheidend mitgetragenen Kulturrevolution sehr ernst nahm, sollten einige führende Intellektuelle mit unterschiedlich kritischen Standpunkten, die man für die Proteste mitverantwortlich machte, aus der Partei ausgeschlossen werden. Als Generalsekretär weigerte sich Hu Yaobang, diese Ausschlüsse vorzunehmen, worauf er von seinem Posten (nicht jedoch aus dem Politbüro) entlassen und durch den demselben Flügel angehörenden Zhao Ziyang ersetzt wurde.

Liberales Symbol

Aufgrund seiner direkten Art und seines offenen Umgangs auch mit kritischen Intellektuellen genoss Hu Yaobang Ansehen besonders unter Teilen der Studierenden und der Intelligenz. Sein Tod im April 1989 wurde der unmittelbare Anlass, der zum „Zwischenfall vom 4. Juni“ führen sollte. Studierende der Eliteuniversitäten in Peking versammelten sich am Tian‘anmen-Platz, um Hu zu betrauern und seine volle Rehabilitierung zu fordern. Innerhalb kürzester Zeit wurden die Kundgebungen der Protestierenden größer – es begannen andere urbane Gesellschaftsschichten, insbesondere Werktätige, daran teilzunehmen. Die politischen Forderungen wurden vielfältiger – vom Beschleunigen bis zum Beenden der Reformen. Ein Teil der Protestierenden wurde radikaler, von Besetzungs- bzw. Stürmungsversuchen des Regierungsviertels bis zu exzessiver Gewalt gegen die sich am Beginn der Proteste noch äußerst zurückhaltenden Ordnungskräfte.

In der Führung der KPCh gab es Uneinigkeit, wie mit den Protesten umzugehen sei. Quer durch die Tendenzen herrschte einerseits die Auffassung, dass Teile der Proteste und der mit ihnen verbundenen Forderungen durchaus gerechtfertigt waren, andererseits war man beunruhigt, wie schnell sich die Dinge zu verselbständigen und zu radikalisieren begannen.

Dafür und dagegen, von innen und außen

An den äußeren Enden des Meinungsspektrums der KPCh meinten die einen, es könnte eine Bewegung zur massenhaften Unterstützung weiterer und schnellerer Reformen werden, die anderen, es könnte der Beginn einer von außen angeheizten Konterrevolution werden (ähnlich jener, die man gerade in der Sowjetunion beobachteten konnte). Die imperialistischen Kräfte hatten in der Tat ihre Finger mit im Spiel. Unter Generalsekretär Zhao Ziyang hatten seit Mitte der 1980er mehrere sogenannte Nichtregierungsorganisationen insbesondere der USA in China Fuß gefasst, die wie in den sozialistischen Staaten Europas ihre Wühl- und Propagandaarbeit leisteten. Einige in Teilen der Tian’anmen-Proteste zu beobachtenden Methoden zur Destabilisierung sah man in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bei Regime-Change-Operationen und „Farbrevolutionen“ wieder am Werk.

Die offizielle Linie der Partei zu den Protesten war kurvig. Einerseits verurteilte das maßgeblich von Premier Li Peng beeinflusste Editorial der Volkstageszeitung, des Zentralorgans der Partei, Ende April 1989 die Proteste scharf, andererseits sollten gleichzeitig Dialoge zwischen der Führung der KPCh und Studierendenvertretern begonnen werden. Bei den Wahlen für die Delegierten der Studierenden kam es zu ersten ernsthaften internen Auseinandersetzungen um die politischen Ziele der Bewegung. Um den inhaltlich und personell inzwischen schwächelnden Protesten einen neuen Impuls zu geben, griffen einige charismatische Persönlichkeiten die Idee eines Hungerstreiks und einer Besetzung des Tian’anmen-Platzes auf, die von Studierenden der damaligen britischen Kronkolonie Hongkong kam.

Streiks und Absetzungen

Am 13. Mai begannen sich Abertausende Studierende am Tian’anmen Platz zu versammeln. Es entstand eine Zeltstadt und in den ersten Tagen herrschte trotz Hungerstreiks einiger Studierender volksfestartige Stimmung mit Konzerten und anderen kulturellen Veranstaltungen. Die Zahl der Menschen am Platz wuchs und auch normale Bürger Pekings gesellten sich zu den Studierenden. Auch kam es zu Solidaritätskundgebungen von Studierenden in anderen Städten. Nicht vollkommen unabhängig davon, aber inhaltlich eher gegen die Reformen und ihre Auswüchse gerichtet, kam es in mehreren Industriebetrieben in Peking, aber auch anderen Städten zu Arbeitsniederlegungen und Streiks.

Am 18. Mai gab es eine im Fernsehen übertragenen Debatte zwischen Li Peng und anderen führenden Persönlichkeiten der KPCh und Studierendenvertretern, die aber keine wesentlichen Fortschritte in der Verbesserung der Situation mit sich brachte. Unterdessen wurde in der Führung der Partei bereits eine Diskussion um die von Deng Xiaoping geforderte Verhängung des Ausnahmezustandes geführt, um der Proteste und der damit verbundenen immer weiter um sich greifenden Unruhen Herr zu werden. Zhao Ziyang, der eine versöhnliche Haltung gegenüber den Protestierenden hatte und gegen den Ausnahmezustand war, wurde von seinem Posten als Generalsekretär entlassen (und in Folge von Jian Zemin ersetzt). Seine letzte öffentliche Rede, bevor er schließlich unter Hausarrest gestellt wurde, hielt Zhao vor den Studierenden am Tian’anmen-Platz am 19. Mai, am selben Tag, an dem Premier Li Peng den Ausnahmezustand verhängte.

Die Tage zwischen 19. Mai und 4. Juni waren von den Versuchen gekennzeichnet, die öffentliche Ordnung in Beijing wiederherzustellen und den Tian’anmen-Platz zu räumen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einem Teil der Protestierenden wie der den Ausnahmezustand ablehnenden Zivilbevölkerung, die sich den auf den zentralen Platz zusteuernden Sicherheitskräften in den Weg stellte. Auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen.

In der Nacht des 4. Juni wurde der Tian’anmen-Platz, auf dem sich zu diesem Zeitpunkt noch etwa 5 000 Personen befunden hatten, geräumt, ohne dass es zu weiteren Opfern kam. Dass es ein Massaker direkt auf dem Tian’anmen-Platz gegeben hätte, ist eine inzwischen längst auch durch ihre Urheber als solche bestätigte Erfindung der westlichen Presse.

Die Angst der Führung

Festzuhalten ist, dass die Proteste, die am 4. Juni endeten, weder sozial noch politisch einheitlich waren. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Führung der KPCh für die Verhängung des Ausnahmezustandes und Beendigung der Proteste mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln waren: die Angst vor bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen und mit Massenkampagnen zwischen verschiedenen politischen, sozialen und demographischen Schichten ausgetragenen Auseinandersetzungen wie während der Kulturrevolution sowie die Angst vor durch die imperialistischen Kräfte, insbesondere die USA und Großbritannien, von außen befeuerte Konterrevolution. Erstere war wohl in der Tat nicht unbegründet, Letztere, wie man heute aus freigegebenen Dokumenten westlicher Geheimdienste und dem Ende des Sozialismus in Europa weiß, vollkommen berechtigt. Beinahe alle maßgeblichen antisozialistischen Köpfe der Proteste fanden in den USA, Großbritannien oder Taiwan Unterschlupf.

Vorbild trotz Schwierigkeiten

Die Geschichte Chinas war und ist seit dem Ende der Kaiserzeit von unterschiedlichen Tendenzen hinsichtlich der Frage geprägt, wie der – nicht zuletzt durch Fremdherrschaft und imperialistische Interventionen verursachte – sozioökonomische Entwicklungsrückstand gegenüber den führenden Industrienationen aufzuholen sei. Die Schwankungen in den großen Linien der Politik wie von einzelnen maßgeblichen Persönlichkeiten, die erfolgreichen Experimente und katastrophalen Irrwege, die sich oft nicht klar von­einander trennen lassen, sind Zeugnisse der schwierigen Suche nach dem richtigen Weg aus mittelalterlichen Verhältnissen und kolonialer Abhängigkeit. Diese Suche war und ist natürlich geprägt von verschiedenen (Klassen-) Interessen in China – freilich auch innerhalb der KPCh – und der Konstellation der Kräfteverhältnisse in den inter­na­tionalen Beziehungen.

Egal wie man zu seiner widersprüchlichen Entwicklung stehen mag, China ist heute ein strahlendes Symbol für das Ende der kolumbianischen Epoche und in einer durch den immer mehr zur Barbarei tendierenden Imperialismus westlicher Staaten geprägten Welt nicht mehr nur für Länder des Trikont ein Vorbild für alternative Entwicklungsmöglichkeiten.

Bleibende Widersprüche

Als nach dem 4. Juni 1989 der Ausnahmezustand beendet war, wurden in Partei und Staat zehntausende Menschen quer durch die Tendenzen wegen Verfehlungen disziplinar bzw. juristisch belangt. Dass der „Zwischenfall vom 4. Juni“ auch nach dreißig Jahren – ähnlich wie die Kulturrevolution vor etwas mehr als 50 Jahren – für die Volksrepublik ein schwieriges Thema darstellt, liegt daran, dass Chinas Weg auch heute noch von ähnlichen Widersprüchen in Gesellschaft, Staat und Partei geprägt ist. Dass der Westen seine Erzählung heute wie damals propagieren muss, liegt auf der Hand. China war damals Feind und ist es auch heute noch, vielleicht sogar um einiges verstärkt.

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"Zu weit oder zu zaghaft?", UZ vom 31. Mai 2019



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