Julie (Laure Calamy) lebt mit ihren zwei schulpflichtigen Kindern in der Nähe von Paris. Wenn man zu Filmbeginn sieht, wie sie Nolan und Chloe am Morgen zur Eile beim Frühstück treibt, denkt man: Julie liebt die beiden über alles – oder doch nicht? Würde sie die zwei sonst tagsüber bei einer betagten Nachbarin „parken“, während sie sich selbst im Speckgürtel von Paris in einem aufreibenden Job um den perfekten Zimmerservice eines Luxushotels abrackert?
Also geht es ihr um eine Hotelkarriere? Wieder daneben, denn ihr wirkliches Traumziel ist ein hochbezahlter Marketingjob im Zentrum von Paris. Für den hat sie auch schon einen Termin für ein Bewerbungsgespräch. Wenn’s damit klappt, wäre sie ihre Schulden los und das nervenaufreibende Pendeln hätte ein Ende …
Die Geschichte erinnert nicht zufällig an den ebenfalls 2021 erschienenen Juliette-Binoche-Film „Wie im echten Leben“ („Ouistreham“, Regie: Emmanuel Carrère). Das war in Frankreich die Hochzeit der Gelbwesten, und so agieren die Heldinnen an den Nahtstellen großer Arbeitskonflikte. In Glücksfällen (Ken Loach, Gebrüder Dardennes oder ähnlichem) entsteht aus solcher Konstellation große Filmkunst, wenn Talent, Genie und Engagement in perfekter Kooperation zusammenfinden. Weniger begabte Talente versuchen, mit einem affirmativ vorangestellten Insert „Nach einer wahren Geschichte“ für ihren Stoff mehr Glaubwürdigkeit zu reklamieren – und erreichen oft das Gegenteil.
Schon die rasante Szenenfolge, mit der „Julie …“ beginnt, lässt wenig Raum, die hektisch durchs Geschehen Rasende in ein plausibles soziales Umfeld einzubetten. Das macht ihre Julie den ganzen Film über zur dauerpräsenten Hauptfigur. Hinzu kommt ein weiteres Ärgernis: Es scheint, als hätte sich die erst knapp zuvor durch eine TV-Serie zu Starruhm gelangte Laure Calamy von ihrem „Entdecker“, dem unerfahrenen franko-kanadischen Regisseur Eric Gravel, schier unbegrenzt Szenen in die Rolle schreiben lassen, die sie nun ohne Rücksicht auf Handlungslogik abarbeitet.
Im großen Nahverkehrsstreik lässt Julie sich von einem Nachbarn zwar gerne in die City kutschieren, aber nur um zu ihrem Hoteljob zu kommen oder zum Geburtstag von Nolan ein Trampolin (!) herbeizuschaffen – den Streik selbst aber unterläuft sie mit einem Leihfahrzeug. Die Unerfahrenheit einer neuen Kollegin nutzt sie, sich durch einen Trick mit den Stempelkarten zu ihrem großen Bewerbungsgespräch wegzuschleichen. Als das auffliegt, muss auch noch die Leiterin zum Opfer von Julies Intrige werden …
Wer solche „Kolleginnen“ hat, braucht keine Feinde mehr. Ist es das, was Gravels Film uns sagen will? Oder sollen wir einer so vom „Drehbuch“-Schicksal Geprüften sogar solch unsolidarisches Verhalten nachsehen? Seien wir gnädig! Eine Französische Filmwoche in den Kinos und dazu der Internationale Frauentag zum Kinostart seien Rechtfertigung genug. Der klärende Anruf aus der Marketingzentrale – das noch eiligst angehängte Happyend – erreicht Julie auf dem Rummelplatz. Belohnung für eine tapfere Frau oder für gnadenlosen Egoismus? Darüber will ich nicht auch noch nachdenken.
Julie – Eine Frau gibt nicht auf
Regie: Eric Gravel
Unter anderem mit Laure Calamy, Anne Suarez, Cyril Guei und Agathe Dronne
Im Kino