„Zu feige, sich zu wehren“

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Bad Nenndorf ist der Ort, wo sich nach Auftauchen der Neonazis sofort viele Menschen gemeinsam dagegen wehrten. In vielen anderen Kommunen haben Politik, Polizei, Medien und andere, lokale Nazivorkommen verharmlost und stattdessen

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uns AntifaschistInnen als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Ihr habt hier in Bad Nenndorf, auch ohne vorherige antifaschistische Bildung und Praxis, genau das Richtige getan. Ihr habt mit Kreativität, Übertönen und Lächerlich-machen der Neonazis, mit Straßenbesetzungen und Bündnisbildung, auch den euch aufgezwungenen Maßnahmen von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz erfolgreich widerstanden. Ihr beweist alle Tage Courage und davor haben wir Hochachtung.

Couragiert und solidarisch das waren und sind auch die Überlebenden der Lager und Knäste und des Widerstandes im Nazi-Reich. Sie gründeten nach der Befreiung vom Faschismus die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“. Das Leitwort unserer Organisation ist bis heute der Schwur von Buchenwald, den die 21 000 nach ihrer Selbstbefreiung des KZ am 19. April 1945 leisteten, ich zitiere:

„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“

70 Jahre danach schafft es dieser Staat nicht, die Ideologie des größten Menschheitsverbrechens aus Köpfen, Straßen, Internet und Verfassungsschutz zu beseitigen.

Während der Geheimdienst Nazis finanziert und NSU-Mörder unentdeckt lässt, fliegen Steine durchs Fenster einer Engagierten von „Bad Nenndorf ist bunt“ und nicht nur Flüchtlinge, sondern auch wegen Unterstützung von Flüchtlingen werden wieder Menschen bedroht und geschlagen.

Trotz alledem:

Die braune Jauche aufhalten, das müssen wir schon gemeinsam selbst tun. Heute will sie wieder durch Bad Nenndorf schwappen.

Es geht um mehr als deren Heuchlermarsch.

Es ist mal wieder Mode auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte Anschläge zu verüben. Stichworte geben nicht nur Pegida, AfD, NPD, sondern auch zu viele aus Politik und Medien. Am 29. Juli 2015 erklärte in der ARD die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier: „Wir müssen die Flut an falschen Asylbewerbern eindämmen“. Im Jahr 2000 erklärte der damalige bayrische Innenminister Günther Beckstein: „Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen.“ (FOCUS, 10.6.2000)

Auf die Mord- und Brandpogrome 1992 gegen Flüchtlinge, u. a. in Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, reagierten die Regierenden mit Verschlechterung des Asylrechts. Auf die aktuellen Proteste und Anschläge gegen Flüchtlinge reagiert nicht nur Seehofer mit der Forderung nach weiterer Verschlechterung des Asylrechts.

Dabei zwingt die sogenannte Europäische Wertegemeinschaft viele Menschen erst zur Flucht. Ihre Heimatländer dienen als gigantische Plantagen für europäische Nahrungs- und Genussmittel, als billiger Rohstofflieferant, als billige „verlängerte Werkbank“ und gar als Markt für Resteverwertung. Zum Beispiel machen exportierte billige deutsche Hähnchenreste aus afrikanischen Bauern Armutsflüchtlinge.

Das Elend durch Landnahme, Versteppung, Klimawandel – das machen die globalen Konzerne.

Die Verheerung der Welt ist für viele Menschen nicht mehr zu ertragen. Da ist es logisch, der Verheißung von „Freedom and Democracy“ und der Spur der Ernten, Rohstoffe und Billig-Konsumgüter dorthin zu folgen, wo sie genossen werden.

Die Militarisierung der Abschottungspolitik, mit hohen Zäunen und Zerstörung von „Schleuser-Booten“ ist so unmenschlich wie erfolglos. Und wen interessiert’s schon, wenn Tausende im Mittelmeer ersaufen.

Unser Landesvater Stephan Weill gibt sich human und will Flüchtlinge aus europäischen sogenannten sicheren Drittstaaten schnell abschieben. Hey Alter, es geht hier um Roma, die im ehemaligen Jugoslawien ausgegrenzt und verfolgt werden. Will sich Weill wirklich in die Tradition der Antizigeuner-Propaganda begeben?

Und hierzulande?

Wir wissen, dass die von sozialen Abstiegsängsten bedrohte Mittelschicht vor 1933 die antisemitische Propaganda der Nazis aufsog. Zu Schuldigen an der eigenen Lage wurde eine sogenannte „jüdische Weltherrschaft“ erklärt.

Professorin Dr. Gesine Schwan erklärte im Januar 2015: „Wenn die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich immer größer werden, wenn vielen Menschen der Mittelschicht, Prekariat und jederzeitiger sozialer Abstieg droht, dann sucht sich diese mit Ohnmacht gepaarte Angst eben als Blitzableiter jene Menschen, an denen sie ohne Gefahr ihre Wut abreagieren können.“

Es sind die gleichen Gruppen von Menschen, die erst sozial und gesetzlich ausgegrenzt werden und anschließend Zielscheibe faschistischer Anschläge sind.

Die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ beweist, was viele von uns täglich erleben, nämlich:

  • dass Langzeitarbeitslose und Asylsuchende von fast der Hälfte der Bevölkerung abgewertet werden,
  • dass Sinti und Roma, Behinderte, Wohnungslose, Homosexuelle von rund einem Viertel der Deutschen abwertend betrachtet werden.
  • aber 38 Prozent nehmen für sich angebliche Etablierten-Rechte in Anspruch.

Die Untersuchung stellt fest, dass die wirtschaftliche Wettbewerbslogik, das Kosten-Nutzen-Kalkül, die Gründe liefert für die Abwertung von Behinderten, Obdachlosen, Roma und anderen.

Den Herrenmenschen raushängen lassen, die Ideologie vom „Recht des Stärkeren“ – aber zu feige, sich gegen die kapitalen Verursacher der eigenen wirtschaftlichen Not zu wehren.

Nicht sogenannte Fremde, Behinderte, Schwule sind schuld an Befristungsjobs, HartzIV und Armutsrenten.

Es sind NICHT Hüsein und Achmed, die den KollegInnen bei Amazon vernünftige Arbeitsbedingungen und einen Tarifvertrag verweigern oder Post-KollegInnen in Billig-Tochterfirmen abschieben.

Rassismus ist keine Lösung sozialer Probleme!!

Das Beste, was wir tun können, ist, selbst vorbildlich zu handeln – nämlich wie

  • jene, die Flüchtlinge willkommen heißen, unterstützen und wenn nötig, mit Kirchenasyl vor Abschiebung schützen;
  • wie jene, die gegen Verschlechterungen im Sozial- und Gesundheitswesen und für menschliche Arbeits- und Lebensbedingungen solidarisch streiten und streiken;
  • wie jene, die Aufmärsche von Pegida und hier in Bad Nenndorf aufmarschierende Nazis blockieren;
  • wie Beate Klarsfeld, die dem Bundeskanzler Kiesinger eine Backpfeife für seine engagierte Nazi-Karriere verpasste

Flüchtlinge sind willkommen!

Nazis NICHT!

… denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen! […]

Wincklerbad in Bad Nenndorf

Wincklerbad in Bad Nenndorf

( commons.wikimedia.org: Fatelessfear)

Das Trauerspiel von Bad Nenndorf

Im Bad Nenndorfer Militärgefängnis „Wincklerbad“ wurden von Juni 1945 bis Juli 1947 von der britischen Rheinarmee Nazi-Kriegsverbrecher und vermeintliche Sowjetspione inhaftiert. Als Misshandlungen der Gefangenen an die Öffentlichkeit kamen, wurde das Militärgefängnis geschlossen. Die Neonazi-Szene versucht seit 2006 in Bad Nenndorf einen „Trauermarsch“ (jetzt auch: „Marsch der Ehre“) zu etablieren, in dem Mitglieder der Waffen-SS und anderer faschistischer Organisationen zu Märtyrern gemacht werden. Täter sollen zu Opfern und Befreier zu Folterern verklärt werden, die sich nicht von den Nazis unterschieden hätten. Dem stellt sich das Bündnis „Bad Nenndorf ist bunt!“ entgegen. Sie haben dafür gesorgt, dass der einstmals größte Nazi-Aufmarsch in Norddeutschland inzwischen zu einem isolierten Treffen von 200 Faschisten geschrumpft ist.

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"„Zu feige, sich zu wehren“", UZ vom 7. August 2015



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