Historischer Abstand ist ein Luxus. Jahrzehntelang konnten die Nachgeborenen in Deutschland mit einer Mischung aus Unglaube, Entsetzen und peinlicher Berührung auf den Pathos vergangener Zeiten schauen. Etwa auf Kaiser Wilhelm II., der seine Rede „An das deutsche Volk!“ nach der Kriegserklärung gegen Russland mit der grotesken Verzerrung einleitete, dass es sein „heißes Bemühen gewesen (sei), der Welt den Frieden zu erhalten“. Es müsse „das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind.“ Wer sich schon immer gefragt hat, wie eine derartig plumpe Propaganda jemals verfangen konnte, lebt genau in der richtigen Zeit.
Natürlich versuchen die „Zeitenwende“-Medien das Märchen von der deutschen Friedensmacht und dem aggressiven Feind im Osten in ein modernes Gewand zu kleiden. Doch hin und wieder leisten sich die Befürworter der neuen „Kriegstüchtigkeit“ ihre Kaiser-Wilhelm-Momente. Nah an das Original schaffte es in der vergangenen Woche Kriegsminister Boris Pistorius (SPD). Im Zuge seiner Reise in die USA hielt er eine Rede in der Johns-Hopkins-Universität und nutzte die Gelegenheit, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. „Anstatt aufzugeben, werden Sie mich mit grimmiger Hingabe kämpfen sehen“, wählte Pistorius eine Sprache, die des „Reichsanzeigers“ würdig gewesen wäre.
Schon der Titel seines Vortrags: „Standhaft, fähig und bereit: Deutschlands Sicherheitsrenaissance und transatlantische Verteidigung“, verriet die Marschrichtung. Deutschland solle neben den USA zur militärischen „Führungsmacht“ aufsteigen. „Deutschland macht die nationale und kollektive Verteidigung zu seiner Priorität, zum ersten Mal in unserer Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg“, so der Minister, der auch deutlich machte, dass es dabei längst nicht nur um die Landesverteidigung geht. „Vom hohen Norden bis zum Balkan, von der Ostsee bis zum Mittelmeer“ werde man die NATO verteidigen. Aber auch außerhalb Europas kündigte Pistorius ein stärkeres militärisches Engagement an. „Wir können nicht einfach zusehen und abwarten, wie das Völkerrecht, unsere Ordnung und unsere Werte zerstört werden“, und das gelte „weltweit“ – auch dann, wenn Deutschlands „legitime Interessen“ bedroht seien. Als Beispiele nannte er „die Krisenherde in Afrika, im Nahen Osten und im indopazifischen Raum“.
Bei aller Kraftmeierei achtete der Kriegsminister penibel darauf, die „transatlantische Freundschaft“ nicht überzustrapazieren. Als Zeichen des guten Willens hatte er in Washington drei HIMARS-Mehrfachraketenwerfer gekauft, um sie direkt in die Ukraine verschicken zu lassen. Auch wenn er einen Großteil seiner Rede der „russischen Bedrohung“ widmete, zeigte er Verständnis dafür, dass „Amerikas Ressourcen und Aufmerksamkeit sich immer weiter in den indopazifischen Raum verschieben werden“. Schließlich fordere China die „regelbasierte internationale Ordnung“ heraus. Damit hatte Pistorius in wenigen undiplomatischen Worten die Stoßrichtung des ganzen „Zeitenwende“-Unterfangens zusammengefasst.
Dass der Kriegsminister bei aller „grimmigen Hingabe“ nicht daran denkt, sich selbst in den Schützengraben zu legen, zeigten seine Ausführungen zur Wehrpflicht. Den US-amerikanischen Studenten verriet Pistorius schon einmal, worum sich die Ampel-Regierung hierzulande noch drückt. Er sei überzeugt, dass Deutschland eine Wehrpflicht brauche, um die notwendige militärische Stärke zu erreichen.
Während Pistorius in den USA umherreiste, mehrten sich in der Europäischen Union die Stimmen zur Entsendung von Truppen in die Ukraine. Deutsche Politiker forderten, von der NATO-Ostflanke aus die Luftverteidigung zu übernehmen. Umso größer die Verluste auf dem Schlachtfeld, umso stärker die strategische Bedrängnis des imperialistischen Westens, umso markiger werden die Worte und gefährlicher die Taten. „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war“, schloss Wilhelm II. die oben zitierte Rede. Wie das ausging, ist bekannt. „Deutschland ist fähig und bereit (…) seine Rolle in der Weltpolitik zu spielen“, verkündete Pistorius gegen Ende seines Vortrags. Wie das ausgehen wird – man ahnt es.