Dr. Günther Wehner
ist Historiker und lebt in Berlin
Lesetipps zum Blutmai:
Léon Schirmann: Blutmai 1929. Berlin 1991
Klaus Neukrantz: Barrikaden am Wedding. Manifest Verlag 2018
Das Jahr 1929 stand im Zeichen sich verschärfender Klassenauseinandersetzungen, gekennzeichnet durch erbitterte Streikkämpfe in mehreren Landesteilen der Weimarer Republik. Hinzu kam, dass die Große Koalition unter Führung von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) entgegen allen Wahlversprechen den Bau des „Panzerkreuzers A“ in Auftrag gab. Damit wurde deutlich, dass die sozialdemokratischen Politiker ihrer Koalitionspolitik mit der Bourgeoisie einen höheren Stellenwert einräumten als einer Politik gegen Aufrüstung und für sozialen Fortschritt für die Bürger der Republik.
Zu dieser unsozialen Koalitionspolitik unter Hermann Müller kam, dass am 28. September 1928 vom preußischen Innenminister Grzesinski das – nur in Preußen bestehende – Redeverbot gegen Adolf Hitler aufgehoben wurde. Die Nazis konnten ungehindert hetzen. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen der SA mit Kommunisten, Sozialdemokraten und parteilosen Demokraten, die sich gegen den Straßenterror der SA wehrten. Als Ergebnis der aufgeheizten innenpolitischen Lage verbot der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel am 13. Dezember 1928 politische Versammlungen unter freiem Himmel in Berlin. Dieses Verbot wurde am 21. März 1929 von Grzesinski auf ganz Preußen ausgedehnt. Im April 1929 wurde die Gültigkeit des Demonstrationsverbotes auch für den 1. Mai bekräftigt.
Eine bewusst vorbereitete Provokation
Gedeckt von seinen sozialdemokratischen Parteifreunden wie dem preußischen Innenminister verbot der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Zörgiebel auch die Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin. Die KPD rief trotzdem zur Demonstration auf. Zörgiebel unterstellte daraufhin der KPD, sie plane einen Aufruhr und nehme zahlreiche Tote in Kauf. In der Spätausgabe des sozialdemokratischen „Vorwärts“ vom 29. April 1929 hieß es später dann auch verleumderisch: „200 Tote am 1. Mai – Verbrecherische Pläne der Kommunisten.“
Trotz des Verbotes gingen am 1. Mai – von den Kommunisten angeführt – 200 000 Berliner Werktätige in verschiedenen Stadtteilen auf die Straße. Sie traten für ihre in Jahrzehnten erkämpften Rechte in friedlichen Demonstrationszügen ein. Die unter dem Befehl Zörgiebels stehende Polizei ging unmittelbar nach dem Beginn der Demonstrationen mit bewaffneter Gewalt gegen die Demonstranten vor. Es wurde ohne Vorwarnung sofort scharf geschossen. Die Polizisten eröffneten wahllos das Feuer auf die Demonstranten sowie auf völlig unbeteiligte Bürger, die spazieren gingen. Gegen die unbewaffneten Demonstranten wurden gepanzerte Fahrzeuge mit Maschinengewehren eingesetzt. Die Polizei schoss auf Plakate, die zu Ehren des 1. Mai angebracht waren, und auf rote Fahnen, die an den Fenstern der Wohnungen hingen – so zum Beispiel in Berlin-Neukölln und im Stadtteil Wedding.
Zum Schutz gegen den Polizeiterror in Berlin-Wedding errichteten die Bewohner und Demonstranten in der Kösliner Straße eine Barrikade. Laut amtlicher Behauptung war diese besonders massiv und es kam zwischen der Polizei und den angeblichen Verteidigern der Barrikade zu schweren Kämpfen unter Einsatz von Schusswaffen. Bei diesen Kämpfen – so wurde berichtet – sei ein Polizeioffizier schwer verwundet worden. Diese Behauptung wurde umgehend vom „Vorwärts Der Abend“ am 1. Mai verbreitet.
Solche bewusst gefälschten Nachrichten über die Ereignisse am 1. Mai 1929 wurden auch von rechtsgerichteten deutschen und ausländischen Zeitungen in Umlauf gesetzt. So wurde unter anderem berichtet: „Hinter der Barrikade, gemeint ist die in der Kösliner Straße, nahmen etwa 100 Kommunisten mit Waffen in der Hand Aufstellung. Gleichzeitig wurden fast sämtliche Fenster geöffnet und in ihnen erschienen, ebenfalls mit Pistolen in der Hand, zerlumpte Gestalten. Auch die Dächer der Häuser waren besetzt und plötzlich, als eine Polizeistreife in einem offenem Auto vorbeifuhr, setzte von allen Seiten ein mörderisches Feuer ein … die Mannschaften gingen mit Karabinern in der Hand gegen die Barrikade vor. Sie mussten aber zurückweichen … Nun wurde Verstärkung angefordert. Es folgte nun ein Sturmangriff. Erst nach mehr als einstündigem Kampf, bei dem etwa 2 000 Schüsse gefallen waren, war es den Polizeimannschaften gelungen, die Barrikade zu erreichen …“ (Landesarchiv Berlin 58/2407, Bd. I. – Ähnliches behauptete der „Vorwärts“ am 2. Mai in seiner Abendausgabe.)
In der Kösliner Straße wurde jedoch gar kein Polizeioffizier verletzt. Im Staatsarchiv Potsdam liegen umfangreiche exakte Dokumente zum 1. Mai 1929 vor: Der Kommandeur der Schutzpolizei Oberst Heimannsberg, der an Ort und Stelle gewesen war, schilderte in einem internen Bericht, den 2. Mai 1929 betreffend, sachlich die Ereignisse in der Kösliner Straße. Zudem strich er das Wort „Barrikade“ an zwei Stellen und ersetzte es durch „Straßensperre.“ Im Weiteren schrieb er „… es glückte der Polizei … das Hindernis auseinander zu reißen. (Staatsarchiv Potsdam Pr. Br. 30/7525, Bl. 234 ff.)
Wie bei allen anderen „Mai-Barrikaden“ handelte es sich um Verkehrshindernisse zum Schutz der Demonstranten gegen Polizeifahrzeuge.
Major M. sagte vor der Polizei wie folgt aus: „Am 2. Mai gab es zahlreiche Dachschützen und Fensterschützen aus dem oberen Stockwerk und aus allen Häusern wurde geschossen. Durch das einsetzende Karabinerfeuer wurde das Feuer des Gegners in seiner Hauptwirkung schließlich zum Schweigen gebracht und die Barrikade abgeräumt …“ (Landesarchiv Berlin 58/2407, Bd. I.). Im nachfolgenden Prozess am 14. Juni 1929 sagte er vor Gericht dagegen schlicht und einfach aus: „In der Kösliner Straße hörte ich Feuer aus den Häusern. Das Feuer wurde erwidert und die Barrikade abgeräumt.“(Ebenda)
Es ist ein Wunder, dass das angebliche heftige Feuer keinen einzigen Polizisten traf und keiner der angeblich zahlreichen kommunistischen Barrikadenkämpfer durch die Polizei umkam oder verletzt wurde.
Während der Zeit vom 1. bis zum 3. Mai 1929 wurden am Wedding ganze drei Schusswaffenträger verhaftet und die Bilanz der massiven Hausdurchsuchungen nach Waffen am 3. Mai 1929 betrug nur vier brauchbare Revolver. Man muss sich die Frage stellen, womit die Polizei laut lancierter Zeitungsmeldungen und angeblichen Augenzeugen so heftig beschossen wurde.
In den nachfolgenden massiven Polizeirazzien nach dem 1. Mai 1929 wurden allein in der Kösliner Straße über 20 Personen festgenommen. Acht wurden gerichtlich belangt, aber wegen falscher Anschuldigungen freigesprochen. In einem Geheimbericht der Polizei, der ebenfalls im Landesarchiv Potsdam vorliegt, wurde protokolliert, dass die „Barrikade“ in der Kösliner Straße unbesetzt war.
„Barrikadenkämpfe“ als Rechtfertigung
Die Durchsicht der umfangreichen Berichte der drei Berliner Staatsanwaltschaften und die Akten der Polizei im Landesarchiv in Berlin ergeben, dass die Polizei und die rechtsgerichtete Presse einschließlich des sozialdemokratischen „Vorwärts“ die angeblichen Barrikadenkämpfe als Entschuldigung für die große Anzahl an Opfern und als Rechtfertigung für die nachfolgende brutale Bekämpfung der KPD nutzten.
In den Tagen vom 1. Mai bis zum 3. Mai 1929 kamen durch den Polizeiterror 32 Personen, darunter sieben Frauen, um. Hunderte wurden verletzt. Laut Archivunterlagen hat die Polizei 10 981 Schuss abgegeben. Zum Einsatz kamen Pistolen, Karabiner und Maschinengewehre. Das jüngste Todesopfer war ein sechzehneinhalbjähriges unbeteiligtes Mädchen, das älteste Opfer war ein 79-jähriger Mann. Bei keinem der Todesopfer wurde eine Waffe gefunden. Die archivierten Unterlagen zum Blutmai ergeben, dass es sich um völlig unbeteiligte Berliner handelte, die erschossen wurden. In keinem einzigen Fall ist von der Polizei festgestellt worden, dass ein Todesopfer ein Demonstrant gewesen sei. 28 Polizisten wurden verletzt.
Im Nachgang der blutigen Maitage standen viele Berliner Stadtbezirke unter Ausnahmezustand. Es wurden strenge Ausgangssperren verhängt. Straßenseitige Fenster mussten geschlossen bleiben. Die Wohnräume durften nicht beleuchtet werden.
Der von Zörgiebel provozierte Blutmai war der erste offene Zusammenstoß der Arbeiterklasse mit der imperialistischen Staatsgewalt seit 1923. Unmittelbar nach den Maitagen von 1929 inszenierten wiederum der SPD-Minister Grzesinski und der Reichsinnenminister eine Verfolgungswelle gegen die KPD. Der Rotfrontkämpferbund, die Wehrorganisation der KPD, wurde verboten. Die „Rote Fahne“ erhielt ein siebenwöchiges Druckverbot und man erwog sogar das Verbot der KPD.
Der Blutmai widerspiegelt, wie die verantwortlichen Regierungsrepräsentanten der SPD in der Weimarer Republik dem verstärkten Rechtskurs der imperialistischen Bourgeoisie nachgaben. Die Folge dieser Politik war, dass sich die Kluft zwischen den einfachen SPD-Mitgliedern – die weiterhin häufig verbittert, aber ratlos ihrer Führung folgten – und den Kommunisten vertiefte und jene Kraft geschwächt wurde, die allein imstande gewesen wäre, den sich stark formierenden faschistischen Kräften entgegenzutreten.