Science Fiction von Frauen erzählt von falschen und richtigen Verhältnissen

Zeuginnen der Zukunft

Jeder einmal erreichte Fortschritt hin zur größeren Menschenwürde ist unterm Kapital revidierbar, sobald eine Krise den Vorwand dazu liefert. Im Windschatten der Pandemie beispielsweise haben mehrere Bundesstaaten der USA, darunter Mississippi, Florida und Indiana, letztes Jahr ekelhafte Maßnahmen gegen reproduktive und andere körperliche Selbstbestimmungsrechte von Frauen erlassen. Bei Demonstrationen dagegen tragen die Protestierenden nicht selten Kostüme aus der HBO-Fernsehserie „The Handmaid’s Tale“. Frauen sind in dieser nach dem Szenario eines 1985 erschienenen gleichnamigen Romans der Kanadierin Margaret Atwood konstruierten Show zum Gebären und Gehorchen da. „The Handmaid’s Tale“ spielt allerdings nicht in der alten Feudalzeit oder in der sklavenhaltenden Antike, sondern nach dem Zusammenbruch der liberalen, bürgerlich-kapitalistischen Demokratie. Visionen dieser Art begleiten die „Fäulnis des Kapitalismus“ (Lenin) seit dem Aufkommen des Imperialismus. Man zählt sie zum Genre „Science Fiction“; aber als Margaret Atwood erfuhr, dass ihr Buch (das bei uns „Der Report der Magd“ heißt; inzwischen gibt’s auch eine Fortsetzung namens „The Testaments“ aus dem Jahr 2019, deutsch: „Die Zeuginnen“) zu dieser Gattung gehört, distanzierte sie sich vom Genre der „sprechenden Tintenfische im Weltraum“, wie sie spottete. Ihre Kollegin Ursula K. Le Guin erhob Einspruch und konnte Frau Atwood schließlich davon überzeugen, dass spekulative Literatur in Wirklichkeit ein wichtiger Schauplatz fundamentaler Gesellschaftskritik ist, noch dazu ein künstlerisch ergiebiger, wenn man weiß, wie man sie zu nehmen hat.

Le Guin wusste das; ihre besten Werke, besonders „The Left Hand of Darkness“ (1969, deutsch: „Winterplanet“) und „The Disposessed“ (1974, deutsch als „Planet der Habenichtse“ oder auch „Freie Geister“ erschienen), schildern neue Gesellschaftsordnungen unter Einbeziehung anarchistischer und sozialistischer Ideen. Dabei war Le Guin, die 2018 gestorben ist, längst nicht die radikalste Autorin im Genre. So trieb etwa die 1937 geborene, 2011 verstorbene Joanna Russ, eine Nabokov-Schülerin und Stilistin von hohem Rang, ihre linke Kritik am sich meist sehr aufgeklärt dünkenden bürgerlichen Liberalismus im Roman „The Two of Them“ (1978, deutsch als „Die Frauenstehlerin“ oder auch „Zwei von ihnen“ erschienen) bis an jene vom sozialdemokratischen oder grünen schöngeistigen Milieu gern gemiedene Schmerzgrenze, an der deutlich wird, dass geschenkte oder gewährte Rechte stets weniger taugen als erkämpfte.

Ideologien, die gesellschaftliches Unrecht für naturgegeben ausgeben, treffen Frauen bekanntlich im Durchschnitt härter als Männer. Wer Kinder kriegen kann, soll „deshalb“ auf Fürsorge- und Familienarbeit verwiesen sein, gerade so, als reiche die Essbarkeit des Menschen aus, um den Kannibalismus zu rechtfertigen.
Klassengesellschaften, die man so rechtfertigt, sind nicht nach Beschluss und rationaler Verabredung entstanden, sondern, wie Marx sagt, „naturwüchsig“, daher beten ihre Knechte nicht nur vieles an, was ihnen die Natur vorsetzt, sondern hantieren in ihrer Propaganda auch liebend gern mit Kategorien, die ihnen dabei helfen sollen, Soziales zu naturalisieren, etwa „Geschlecht“ oder „Rasse“.

Science Fiction jedoch dreht am Vorgefundenen, statt es zu vergötzen, und so findet sich darin viel wertvolles antisexistisches und antirassistisches Gedankengut, häufig verfasst von nichtweißen Frauen, etwa Octavia Butler (1947 bis 2006) und heute N. K. Jemisin (vor allem die Trilogie „Die große Stille“) oder Nicky Drayden. Selbst in Deutschland wird inzwischen von Autorinnen dieses Fachs nach einer Zukunft gerufen, die anders aussieht als Vergangenheit und Gegenwart, von Anja Kümmel und Myra Çakan zum Beispiel. Was kommt, weiß niemand genau. Aber was kommen soll und was nicht, verdient schöne Untersuchungen von Leuten wie den hier gelobten.

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"Zeuginnen der Zukunft", UZ vom 5. März 2021



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