Das „9-Euro-Ticket“ klingt gut, könnte langfristig aber sehr teuer werden

Zeugen eines Verbrechens?

Kommunalpolitische Kolumne

Für ganze 12 Wochen gönnt uns die Bundesregierung bald das Privileg, den Nah- und Regionalverkehr für neun Euro im Monat nutzen zu dürfen. Das „9-Euro-Ticket“ polarisiert. Für den Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) soll die verbilligte Fahrkarte „unmittelbar entlasten, Anreize zum Energiesparen setzen und die Nutzung des ÖPNV langfristig attraktiver machen.“ Marco Trips, der Präsident des niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes, sieht das anders. Gegenüber dem „Norddeutschen Rundfunk“ bezeichnete er das Ticket als einen „ziemlich blödsinnigen Schnellschuss mit Blick auf Wählerstimmen“. Eine Feststellung vorweg: Der Preisnachlass könnte die Mobilität vieler Menschen für drei Monate erhöhen. Besonders einkommensschwache Familien dürften davon profitieren. Ausflüge und berufliche Fahrten mit Bus und Bahn könnten wahrgenommen werden, ohne die Brieftasche von innen nach außen zu stülpen. All das ist zu begrüßen. Diese kurzfristigen Vorteile stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den dauerhaften Mehrbelastungen durch die steigenden Energie- und Lebenshaltungspreise. Unterm Strich wird das Leben schwer und teuer; von einem echten Ausgleich kann keine Rede sein.

180502 vincent - Zeugen eines Verbrechens? - 9-Euro-Ticket, ÖPNV - Politik
Vincent Cziesla

Ohnehin hängen die Auswirkungen des Tickets vom bereitgestellten Verkehrsangebot ab. Beschäftigte im Schichtdienst oder Bewohner des ländlichen Raumes werden kaum etwas vom günstigen Fahrschein haben, weil ihre Bedürfnisse in vielen Fahrplänen unberücksichtigt bleiben. Außerdem mehren sich die Stimmen, die vor einer Überlastung von Bussen und Bahnen warnen. Der EVG-Vorsitzende Klaus Hommel rechnete in der vergangenen Woche mit einem Chaos am Bahnsteig und „Räumungen überfüllter Züge“, wie die „junge Welt“ berichtete. Auch der Betriebsrat der „Deutschen Bahn“ fürchtet vor allem in Ferienregionen starke Belastungen und fordert mehr Personal. Die ganze Debatte legt offen, was den meisten Menschen ohnehin klar ist: Der deutsche ÖPNV ist überhaupt nicht darauf ausgelegt, mehr Fahrgäste zu transportieren. Die Privatisierungen und Einsparungen der vergangenen Jahre tragen ihren Teil dazu bei. Am freien Markt fährt nur, wer es sich leisten kann. Im Gegenzug schützt die finanzielle Hürde des Fahrscheinkaufes das kaputtgesparte System vor dem Kollaps. Bei diesem Arrangement wundert es nicht, dass jährlich tausende zahlungsunfähige „Schwarzfahrer“ in den Knast müssen, um dort ihre Ersatzfreiheitsstrafen abzusitzen. Auch sie zahlen den Preis für das Festhalten an einer neoliberalen Verkehrspolitik.

Um den ÖPNV zu einer massentauglichen und attraktiven Alternative zu machen, bräuchte es Geld vom Bund, um mehr öffentliche Verkehrsmittel bereitzustellen und höhere Taktfrequenzen zu erreichen. Nach Berechnungen des Deutschen Städtetages fehlen knapp 1,7 Milliarden Euro, um das „9-Euro-Ticket“ zu finanzieren. Diese Lücke bleibt an den Kommunen hängen, die mit ihren Verkehrsunternehmen an den Auswirkungen der Pandemiepolitik und an den steigenden Energiepreisen leiden. Im Ergebnis könnte das zu einer Abwertung des ÖPNV führen und dazu, dass Ticketpreise steigen und öffentliche Infrastruktur verloren geht. An einem nachhaltigen Nutzen des dreimonatigen Rabatts scheint die Regierung kein Interesse zu haben.

Während die Erkenntnis reift, dass kommunale Investitionen notwendig sind, um die Verkehrswende voranzutreiben, werden die Möglichkeiten dafür beschnitten. Fast glaubt man, Zeuge eines Verbrechens zu werden: Die Ampel vergiftet das eigene Ticketprojekt und beerdigt die stärker werdenden Forderungen nach einem kostenlosen und gut ausgebauten ÖPNV gleich mit. In der anschließenden Grabesstille wäre dann die Bahn frei für eine „Verkehrswende“ aus der grün-gelben Traumwelt: mit vielen elektrischen Autos auf verstopften Straßen und wenig Mobilität für all diejenigen, denen das Kleingeld dafür fehlt.

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"Zeugen eines Verbrechens?", UZ vom 6. Mai 2022



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