Wir feiern am 29. Juli seinen 95. Geburtstag, und wir feiern damit 95 Jahre eines reichen, schweren, kämpferischen, widerständigen, widersprüchlichen Lebens. Unmöglich zu nennen all seine Aktivitäten in Politik und Kunst, in Freiheit und Gefangenschaft, geehrt und gefoltert, verbannt und in der Nähe seiner traditionsreichen Familie, als Politiker, als Dichter, als Komponist. Auffällig immer, schon durch Körpergröße, er ist immerhin 1,94. Und immer ist er unbequem, weil er, wie in seinem Lied, „sich nicht Gesetzen beugte“, sondern in all seinen Zeiten, Liedern, Sinfonien, Balletten, Gedichten, Reden und Biografien „Zeuge seiner verratenen Heimat“ wurde. Das eben wollte er sein, wie wir im Brief an seinen besten Biografen Guy Wagner, lesen können. Wie fing das an?
Seine Kindheit ist geprägt durch Umzüge und Entwurzelung, bedingt durch häufigen Arbeitswechsel des Vaters als Jurist und Staatsbeamter. Geboren wird er auf der Insel Chios. Aber er versteht sich als Kreter, als ein Kreter mit musikalischer und höchst politischer Vorgeschichte. Da ist der eine Stammvater der erste und letzte kretische General, den die Türken am Beginn der Kämpfe gegen sie verhungern ließen. Und da ist der andere der Schöpfer des Hauptliedes der kretischen Revolution „Pote tha kani chasteria“. Eine verschworene Sippe sind sie – meist Hirten, Bauern, Lyraspieler, Angestellte und, wie Theodorakis sagt, Antikommunisten bis auf die Knochen, aber über zwei Jahrhunderte an vorderster Front Kämpfer gegen die wechselnden Besatzer, Türken, Albaner, Italiener, Bulgaren, Deutsche, Engländer, Amerikaner – und die Junta des eigenen Landes. Und so wird denn auch verständlich, wieso Theodorakis auf die Frage eines seiner Peiniger auf der Verbannungsinsel Makronissos, wer er denn sei, dass er die Reueerklärung nicht unterschreibe, nicht antwortet „weil ich Kommunist bin“, was er doch war zu dieser Zeit, sondern, „weil ich Kreter bin“.
Mit den Kretern haben alle Besatzer ihre Probleme, auch die Nazis. Die Kämpfe dauern länger, als von der deutschen Reichsführung eingeplant, und verlaufen besonders erbittert um Galata, im Westen der Insel, dem Heimatort der Familie Theodorakis. „Mein Vater war zeitlebens stolz darauf, dass Galata sogar im Wehrmachtsbericht auftauchte.“ 130.000 stellen sich als Nationale Befreiungsarmee Hitler entgegen, worauf dieser sich in bekannt grausamer Weise an tausenden von Griechen rächt. Das erlebt auch Theodorakis. Aber der kennt das schon von den Italienern. Am 25. März 1942, dem Jahrestag des Unabhängigkeitskrieges, gerät er in ihre Fänge, weil er, siebzehnjährig, auf der Kundgebung der Befreiungsfront EAM zu Ehren des Unabhängigkeitskämpfers Kolokotronis als höchste Form der Herausfordung „Es lebe die Sowjetunion“ ausrief. Die italienischen Folterer reißen ihm einen Fingernagel aus, furchtbar schmerzhaft, aber nicht das Schlimmste, was er in dem Dutzend der Lager und Gefängnisse, Ikaria, Makronissos, Oropos, und der schrecklichen Zahl an Folterungen ertragen muss. Er kommt mit dem Leben davon und flieht – wie in einen Ausweg – in die Musik. Er setzt die künstlerische Linie seiner traditionsreichen Familie fort und wird Komponist, weltberühmt, mit einem riesigen Œuvre. Und nur das wollte er werden, schon, nachdem er in einem deutschen Film zum ersten Mal Beethovens 9. hörte. „Am nächsten Tag ging ich ins Gymnasium und erklärte meinen Lehrern, dass ich mich ab jetzt nur noch mit Musik beschäftigen würde.“
Mit zwölf schreibt er seine erste Komposition und lernt nun, besessen, am Konservatorium. Er schreibt alle Beethoven-Sinfonien ab und bald darauf eigene. „Ich war also Komponist, Kommunist und Verfolgter, ich war alles das zusammen“, unter italienischen und deutschen Besatzern, später unter den Engländern, die nach der Niederlage der Nazis in Athen einrücken und auf Churchills Befehl hin die griechische Resistance liquidieren. Dann kommen die Amerikaner und setzten im Namen der „Truman-Doktrin“ und „zum Schutz der Freien Völker“ in Griechenland zum ersten Mal Napalm ein. Die Nationale Befreiungsfront wird verboten, die Kommunistische Partei sowieso, ein Dekret, das erst 1975 aufgehoben wird. Und Stalin schweigt, lässt die griechische Linke im Stich. Diese Enttäuschung beeinflusst lange Theodorakis spätere Haltung zur KP.
1954 gibt es eine große Veränderung in seinem Leben. Die Athener Ärztin Myrto Altinoglou, in die er sich zehn Jahre zuvor verliebte, wird seine Frau, ist es bis heute. Beide erhalten ein Auslandsstipendium für Paris, sie am Curie-Institut, er am Konservatorium. Er studiert bei Olivier Messiaen, lernt die Zwölftonmusik kennen, und kann seine musikalischen Wurzeln nicht vergessen. So wird das Kretische durchklingen nicht nur in Liedern, sondern auch in Suiten und in seiner Klaviermusik. Das alles – schwermütig – ist ihm musikalische Aufarbeitung der physischen und psychischen Verletzungen von Lager und Bürgerkrieg, von Verhören und Folterungen. Sein Antimakronissos wird Paris, die Stadt, in der seine Kinder Margarita und Giorgos geboren werden, die Stadt, von der er immer schwärmen wird als vom „Zentrum der Welt“, und doch hat er Heimweh. Da schickt ihm 1958 Jannis Ritsos seinen Gedichtzyklus „Epitaphios“, der bei der Bücherverbrennung 1936 in Athen vor dem Zeustempel in den Flammen landete. Geschildert werden Vorgänge des Jahres 36, als beim Streik der Tabakarbeiter 30 Menschen durch die Staatspolizei ermordet wurden, an einem Maitag.
Die Jahre 1960 bis 1967 kommen. Eine gute Zeit, für Mikis die produktivste und glücklichste.
Er spricht vom „Frühling in Griechenland“. Und er wird Komponist in 30 Filmen. „Alexis Zorbas“ macht ihn weltbekannt. Die Arbeit mit dem Regisseur Cacoyannis führt 1962 zu ihrem Meisterwerk „Zorba, der Grieche“. Vielleicht wäre „Zorba, der Kreter“ passender gewesen, denn gerade um den Kreter geht es ja, der, besonders stark, mutig, freiheitsliebend, sinnlich, individualistisch, lebensfroh, und so auch besonders gezeichnet wurde durch den auf Kreta hoch verehrten Dichter Nikos Kazantzakis. Anthony Quinn verkörpert ihn grandios, Und so wird der berühmte Syrtaki in aller Welt als der griechische Tanz an sich empfunden. Gelernt hatte ihn Quinn aus Theodorakis schönem Lied „Mach das Bett für zwei“ aus dem Musical „I Gitonia ton Angelon“, „Das Viertel der Engel“, worin der Dichter, Maler und Regissur Jakovos Kambanellis das Athener Dirnenviertel verklärt und Theodorakis die Musikformen eben dieses Viertels nutzt. Mit Kambanellis verbindet Mikis viel; Schmerzen auch, die Lager und Verbannung hinterlassen haben, das bei der Folter gebrochene Bein, das zerschlagene Auge, und die Krämpfe, die jede Erinnerung an die Verbannungsinsel Makronissos begleiten. Was Wunder, dass er für die „Mauthausen-Kantate“ die Gedichte von Kambanellis nimmt, die dieser über seine Zeit als Häftling im KZ Mauthausen schrieb.
Der 22. Mai 1963. Der Armenarzt Grigoris Lambrakis, der an der Spitze der griechischen Friedensbewegung steht, wird ermordet, woraufhin Künstler, Wissenschaftler mit vielen Jugendlichen die „Lambrakides“, die „Demokratische Jugendbewegung“ gründen und Theodorakis, „den Musiker der Jugend“, wie man ihn nennt, zu ihrem Präsidenten wählen. Die Lambrakides werden die stärkste Organisation Griechenlands, machen sich an die Arbeit, pflanzen Bäume, helfen Schulen gründen, richten Kulturzentren ein.
1967 rollen die Panzer. Für sieben Jahre fällt das Land unter die Diktatur der Junta. Theodorakis verfasst 2 Tage nach dem Putsch den ersten Aufruf zum Widerstand, gründet die „Patriotische Front“ und schreibt „Rebellenlieder“. „Meine Kameraden lernten sie, um sie an die in den Gefängnissen und Lagern gebliebenen Kameraden weiterzugeben.“ Verhaftet wird nach lange vorher angelegten schwarzen Listen und verbrämt nach dem Motto „Es gibt keine politischen Gefangenen in Griechenland. Es gibt nur eingesperrte Kommunisten.“ Denunziation wird offizialisiert. Jeder hat Angst vor jedem. Es hagelt Verbote, von Büchern, langen Haaren, kurzen Röcken, den Beatles, der Homosexualität, der Modernen Musik, den Russen, der Friedenbewegung, dem Buchstaben „Z“, der Leben bedeutet, und – den Liedern von Mikis Theodorakis. Sie werden Anlass für den Armeebefehl Nummer 13. Darin heißt es unter anderem:
- Wir haben beschlossen, und befehlen: Es ist im ganzen Land verboten, Musik und Lieder des Komponisten Mikis Theodorakis zu verbreiten oder zu spielen, diese Musik ist als Bündnis mit dem Kommunismus zu betrachten.
- Die Bürger, die dieser Bekanntmachung zuwiderhandeln, sind sofort vor Sondergerichte zu stellen und werden dort verurteilt.
Das passiert dann auch. Eine Reihe von Menschen werden verhaftet, seiner Lieder wegen.
Mikis trifft es am 21. August 1967. Zum neunten Mal gefangen genommen, eingeliefert ins Gebäude der Sicherheitspolizei. Da sagt Charles Aznavour seine Tournee nach Griechenland ab. Da gibt es sofortige Proteste von Sartre, Schostakowitsch, Stravinsky, Boulez, Bernstein, Belafonte, Henze, Doris Lessing – um nur einige zu nennen. Da schreibt Degenhardt sein Lied für Mikis, „Jener Tag, an dem die Sonne tanzt“. Das alles hat Auswirkungen. Die Junta begnügt sich diesmal mit psychischem Terror, legt ihn in die Zelle Nr.1, unter die „Terrasse“, wo gefoltert wurde. Er zählt die Schreie, ein perverser Rhythmus. Und er zählt die Klopfzeichen, ein guter Rhythmus – tak tak. Und beides wird, komponiert, zum Denkmal für Andreas Lentakis, einem der vielen seiner Freunde, die er neben sich sterben sah – im Schlachthaus.
Lieder wie „Schlachthaus“ sendet die BBC kurz nach ihrer Entstehung. Sie tauchen auf, wenn keiner sie erwartet, trotz strengster Bewachung im Verbannungsort Zatouna, wo die ganze Familie unter Arrest steht, mit ständigen Kontrollen, Leibesvisitationen, auch bei den Kindern Giorgos und Margarita. Von ihnen sagt er: „Es gibt wenige Menschen, die einen solchen Widerstand gegen das Regime geleistet haben wie meine Kinder.“
Dann werden Gerüchte ausgestreut, er sei umgefallen und zur Kollaboration mit der Junta bereit, schlimme Verunsicherung bei denen, die ihm vertrauen, sich an ihm festhalten, um selber durchzuhalten. Die Zahl der Widerständler gegen die Diktatur wird kleiner, dazu Prag 68. Der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten spaltet auch in Griechenland die von Theodorakis immer wieder beschworene Einheit.
Der 13. April 1970 – die internationale Solidarität verhilft ihm zur Flucht nach Paris. Der diese Flucht organisiert, tut es mit den Worten, der Komponist Mikis Theodorakis ist nun kein Kommunist mehr. Nicht das erste Mal und später immer wieder bringt ihn die Frage nach seiner Partei-Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit, seiner kritischen Sicht auf die oder seiner Solidarität mit der kommunistischen Partei zwischen die Fronten, für die Konservativen ein Erzkommunist, für die Kommunisten ein Abweichler.
Am Ende der Junta und dem Beginn der Zivilregierung unter Karamanlis im Juli 74 kann Theodorakis nach Athen zurückkehren. Der Empfang auf dem Flughafen wird ebenso triumphal wie die folgenden großen Konzerte mit seinen Werken. Der Erfolg seiner politischen Arbeit, als unabhängiger Bürgermeisterkandidat oder Staatsminister, reicht nicht heran an den als Komponist. Als dieser weltberühmt und in Griechenland unerreicht, wird er aber dennoch nicht von allen akzeptiert, aufgrund des ewigen Widerspruchs zwischen Massenerfolg und Innovation. Er hält fest an seinen Zorba-Wurzeln und geht darüber hinaus, in 1.000 Liedern, in Passionen, Balletten, Sinfonien, ab den 80-iger Jahren auch Opern. Eigentlich ist er überall ein Stück voraus. Er gründet eine „Griechisch-Türkische Freundschaftsgesellschaft“, um die jahrhundertealte Feindschaft zwischen beiden Ländern zu überwinden. Er gibt als erster Grieche in der Türkei Konzerte und wird zum Wegbereiter der ersten Staatstreffen. Da stempeln ihn die Medien zum „Verräter“ ab, zum „Anti-Hellenen“. Er kritisiert Israels Politik gegenüber den Palästinensern und handelt sich damit das Stigma ein, Antisemit zu sein – neue Schmerzen, die zu den vielen anderen schon erlebten hinzukommen.
So kommt er 16 Jahre nach dem Ende der Junta, 1990, zu der Einschätzung: „Die Lage ist schlimmer als unter der Diktatur. Gewiss, es gibt keine Folter, keine willkürlichen Verhaftungen, aber heute geht es um Leben und Tod für Griechenland. Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Hirne geleert.“
Was seine Landsleute heute beschäftigt, sieht Mikis sehr früh, und entgegen seiner Pläne, sich nur noch mit Musik zu beschäftigen, engagiert er sich, bleibt unbequem. Im Oktober 2011 ruft er zusammen mit Manolis Glezos auf gegen das „Imperium des Geldes“, gegen die Gefahr eines neuen „Finanzfaschismus“, erinnert an Protagoras‘ großen Satz, dass nicht der Markt, sondern „der Mensch das Maß aller Dinge“ ist.
Und er hat einen Wunsch: „Sollte aber wieder eine Massenbewegung, ein großer Aufstand beginnen, so möchte ich mich noch einmal hineinstürzen.“