Diesen Artikel hat der Autor für die Rubrik „Marx Engels aktuell“ auf der Website der Marx-Engels-Stiftung geschrieben. In dieser Serie spiegelt Manfred Sohn einmal im Monat aktuelle Ereignisse an Aussagen der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Es geht darum, mit der Marxschen Methode alles kritisch zu hinterfragen, darum, die moderne Welt besser zu verstehen. Wir haben den Text redaktionell geringfügig bearbeitet.
Am 23. Dezember 1858, also vor ziemlich genau 165 Jahren, erschien in der „New-York Daily Tribune“ als Leitartikel eine längere Abhandlung von Friedrich Engels, die er schlicht mit „Europa im Jahre 1858“ überschrieben hatte.
Seine Leser an der US-amerikanischen Ostküste bereitete er darin auf eine Beschleunigung politischer Ereignisse auf dem seit einem Jahrzehnt politisch eher ruhigen Alten Kontinent vor, die sich seit einigen Monaten abzeichne: „Die zweite Hälfte des Jahres 1858 ist Zeuge eines eigentümlichen Wiedererwachens politischer Aktivität in Europa gewesen. Vom 2. Dezember 1851 bis Mitte dieses Jahres war der europäische Kontinent in politischer Hinsicht wie mit einem Leichentuch bedeckt. Die Mächte, die dank ihrer Armeen siegreich aus dem großen revolutionären Kampf hervorgegangen waren, durften nach ihrem Belieben regieren, Gesetze erlassen oder umstoßen, befolgen oder verletzen, wie es ihnen gerade gefiel. Überall waren die Vertreterkörperschaften zu einem bloßen Schein herabgewürdigt worden; es gab kaum irgendwo eine Parlamentsopposition; die Presse war geknebelt und hätte es nicht dann und wann ein plötzlich aufflammendes Feuerzeichen gegeben (…), im Verlauf derer sich der alte revolutionäre Geist für eine kurze Zeit, um welchen Preis auch immer, in einer lauten und Aufsehen erregenden Selbstbehauptung offenbarte, dann hätte man denken können, der europäische Kontinent habe nach der Erfahrung von 1848 alle Ideen von einem politischen Leben aufgegeben (…).“
Aufflammende Kämpfe
Im Anschluss an diese allgemeine Einführung behandelte Engels in dem Artikel die politischen Ereignisse und Konstellationen in Britannien, Russland, Preußen, dem „übrigen Deutschland“, Italien und Frankreich, um schließlich die Frage zu stellen: „Was liegt nun dieser übereinstimmenden und bisher ungewöhnlich harmonischen Bewegung in fast allen Ländern Europas zugrunde?“ Die zusammenfassende Antwort: „Als die vulkanischen Ausbrüche des Jahres 1848 vor den Augen der erstaunten liberalen Bourgeoisie Europas plötzlich das gigantische Gespenst einer bewaffneten, für die politische und soziale Emanzipation kämpfenden Arbeiterklasse erstehen ließen, opferte die Bourgeoisie, der der sichere Besitz ihres Kapitals von unermesslich höherer Bedeutung als die direkte politische Macht war, diese Macht und alle Freiheiten, für die sie gekämpft hatte, um die Unterdrückung der proletarischen Revolution zu sichern. Die Bourgeoisie erklärte sich politisch für unmündig, für unfähig, die Angelegenheiten der Nation zu leiten und fügte sich in den militärischen und bürokratischen Despotismus.“
Jedem heutigen deutschen Leser wird die Parallele zu dem, was sich in den letzten zwei Jahren hierzulande abgespielt hat, sofort ins Auge springen. In den Medien und Kreisen, die sich wenigstens noch einen Funken eigenen Nachdenkens in diesem Meer von vorauseilendem Kadavergehorsam, das die argumentativen Auseinandersetzungen zunehmend ersäuft, erhalten hatten, wurde immer wieder die Frage aufgeworfen: Warum tut sich die deutsche Bourgeoisie diese völlige Unterordnung unter die USA an, lässt sich die Gashähne und damit den Wettbewerbsvorteil günstiger Energiequellen erst zudrehen und dann auch noch – wozu sie schweigt – in die Luft jagen, lässt sich mit gehorsamer Hand am NATO-Helm alle Märkte zwischen dem Don und dem Chinesischen Meer abschneiden und schubst sehenden Auges ein 80-Millionen-Volk die geseifte Rutschbahn in die Massenverarmung hinunter? Hat die (west-)deutsche Bourgeoisie sich dafür erst in den Wirtschaftswunderjahren mühsam die ökonomische und dann nach 1989 die politische Freiheit von den Mächten erkämpft, die sie 1945 wie einen blutigen Fetzen in den Staub geworfen hatten, nachdem der militärische Griff Großdeutschlands nach der Weltmacht so schändlich gescheitert war? Die Antwort ist dieselbe wie vor 165 Jahren: Es „opferte die Bourgeoisie, der der sichere Besitz ihres Kapitals von unermesslich höherer Bedeutung als die direkte politische Macht war, diese Macht und alle Freiheiten, für die sie gekämpft hatte“. Der Unterschied ist – nachdem sich die Welt ja weitergedreht und entwickelt hat – lediglich folgender: Damals lebte die deutsche – und die europäische – Bourgeoisie in panischer Angst vor dem eigenen Proletariat. Heute lebt sie in panischer Angst vor der aus ihrer Sicht drohenden Vollendung des antikolonialen Befreiungskampfes, wacht sie nachts aus dem Albtraum auf, China würde Seite an Seite mit den anderen BRICS-Staaten seine jahrtausendealte Stellung als Reich der Mitte wieder einnehmen. Letzteres auch deshalb, weil China technologisch nicht mehr auf „Made in Germany“ angewiesen ist und die Deutschen selbst zunehmend bewundernd auf „Made in China“ schauen – sogar bei den Autos, deren Hupen dann den schweißüberströmten deutschen Vorstandsmanager aus seinen Alpträumen befreit. Die Gefahr der Verwirklichung der multipolaren Welt, von der rund um den Globus gegenwärtig geredet wird, treibt die deutsche und (west-)europäische Bourgeoisie unter den Schutzschirm des US-Imperialismus – ebenso wie einst die Gefahr einer proletarischen Revolution ihre Urahnen unter den Schutzschirm des Adels und des Despotismus getrieben hat.
Krisenprozesse
Der Artikel von Engels aber geht noch weiter. Obwohl das europäische Bürgertum sich so das Leichentuch der Friedhofsruhe selbst über die ermatteten Augen gezogen hatte, arbeiteten unter dieser Decke die ökonomischen Prozesse ja weiter: „Dann begann jene krampfhafte Ausdehnung der Fabriken, Bergwerke, Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt, jene Epoche des Crédit mobiliers, des Schwindels in Aktienunternehmungen, des Betruges und der Wechselreiterei, in der sich die europäische Bourgeoisie für ihre politischen Niederlagen durch industrielle Siege, für ihre kollektive Impotenz durch individuellen Reichtum schadlos zu halten suchte. Doch mit ihrem Reichtum wuchs ihre gesellschaftliche Macht und im gleichen Verhältnis erweiterten sich ihre Interessen; sie begann wieder, die ihr auferlegten politischen Ketten zu spüren. Die gegenwärtige Bewegung in Europa ist die natürliche Folge und der Ausdruck dieses Gefühls, gepaart mit einem wiedererlangten Vertrauen in ihre eigene Macht über ihre Arbeiter, wiedererlangt in den zehn Jahren ungestörter industrieller Tätigkeit.“
Auch hier gibt es erstaunliche Parallelen und einen lehrreichen Unterschied, der sich in den seither vergangenen 165 Jahren herausgebildet hat.
Lehren für heute
Die eine Parallele besteht darin, dass die unter der politischen Oberfläche wirkenden fundamentalen Prozesse zwar eine Weile auch bei gleichbleibender politischer Verfasstheit weiterwirken können, aber über kurz oder lang an die Oberfläche politischer Erscheinungen drängen – mal ruhig und organisch, wenn die Herrschenden und die Völker die Signale hören, mal eruptiv, wenn namentlich die Herrschenden versuchen, sich taub zu stellen. Und hinsichtlich der eigenen Arbeiterklasse ist es in den letzten zehn und noch mehr Jahren zumindest in Deutschland traditionell so, dass hier die verfluchte Burgfriedenmentalität selbst dann noch hält, wenn die halbe Burg schon in Flammen steht. Die „eigene Macht über ihre Arbeiter“ ist trotz nunmehr zehn Jahren Reallohnverlust bis jetzt stabil.
Das bewahrt die europäische Bourgeoisie aber – und damit kommen wir zum fundamentalen Unterschied zwischen damals und heute – nicht davor, das beginnende Beben unter ihren Füßen zu spüren. Das kommt nicht aus den Fundamenten jenes Zipfels, der am asiatischen Kontinent angeflanscht ist. Dieses Beben kommt aus den Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen auf diesem Globus, der zu Engels‘ Zeiten hinsichtlich der Bevölkerungszahl, der ökonomischen Kraft und der militärischen Macht von den von ihm aufgezählten europäischen Mächten plus den USA dominiert war. Diesen Mächten aber wankt der Boden – und sie spüren es.
Nicht nur die Schriften von Marx und Engels haben die letzten 165 Jahre überdauert. Auch den in London, dem damaligen ökonomischen Zentrum der Welt, erscheinenden „Economist“ gibt es immer noch. Ähnlich wie Engels im Dezember 1858 hat sich dieses Blatt zum Ende des Jahres 2023 Gedanken über das gemacht, was war und was wohl noch kommen mag. „Die Welt vor dem Jahr 2024“ hat es einen 90 Seiten starken „Führer für das kommende Jahr“ überschrieben, der die eher düstere Stimmung der Herrschenden in der westlichen Welt widerspiegelt: „Das Leben kommt schnell zu Ihnen. Ob es der Aufschwung bewaffneter Konflikte ist, die Neuvermessung der Landkarte weltweiter Energieressourcen oder der rasende Prozess in der Entwicklung künstlicher Intelligenz – die Welt ändert sich mit irrsinniger Geschwindigkeit. Von der Situation im Nahen Osten über die Verbreitung elektrischer Fahrzeuge bis hin zur Behandlung von Übergewicht sehen die Dinge gegenüber der Situation vor ein oder zwei Jahren ganz anders aus.“ Hingewiesen wird in dem Blatt auf die Tatsache, dass in dem vor uns liegenden Jahr in 70 Ländern Wahlen stattfinden, in denen insgesamt mehr als vier Milliarden Menschen – und damit erstmals über die Hälfte der Weltbevölkerung – zu den Urnen gerufen werden. Nicht nur der Ausgang des „neuen Matches zwischen zwei alten Männern, von denen die Mehrheit der Wähler wünschte, sie wären nicht die Kandidaten“, sondern auch die Wahlen in Russland, Bangladesch, Indien, Indonesien und anderswo bieten aus der Perspektive des Londoner Blatts wenig Hoffnung – vielmehr sieht es die „Demokratie in Gefahr“ und kündigt an: „2024 wird ein stressiges Jahr für jeden, der sich wegen der liberalen Demokratie sorgt.“
Damit mag es recht haben. Die Ereignisse der Jahre 2022 und 2023 deuten an, dass die seit über 150 Jahren weltweit herrschenden Mächte zu ahnen beginnen, dass sie nicht mehr so ruhig und ungestört weiter herrschen können, wie sie es vor allem in den Jahren von 1989 bis 2021 – also nach der großen Konterrevolution und ihrem Sieg über die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten sozialistischen Staaten des großen Anlaufs von 1917 bis 1989 – relativ ruhig tun konnten.
Auch die Linke darf sich weltweit und hierzulande innerlich auf heftige politische Eruptionen einrichten. Die lähmende Phase der politischen Friedhofsruhe und scheinbaren Unanfechtbarkeit der Monopole, die nach 1989 für mehrere Jahrzehnte auf der Oberfläche herrschte, geht ähnlich zu Ende wie die Friedhofsruhe, die Europa nach 1848 erstickte.