In den Jahrzehnten seit der Einverleibung der DDR und der zwischenzeitlichen Niederlage des Sozialismus in Europa hat Deutschland – besser: das deutsche Großkapital – Schritt für Schritt seine Expansion verstärkt; nicht nur für eine Dominanz in Europa, sondern auch international. Sie erfolgte wirtschaftlich und politisch, aber auch militärisch: mit Waffenlieferungen, Auslandseinsätzen und Teilnahme an US-geführten Kriegen. Unter der Ampel-Regierung wurde dieser Kurs zur Leitlinie einer von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) formulierten „dienenden Führung“ unter dem US-Imperialismus. Vor allem im Rahmen der NATO werden die deutschen Aktivitäten global ausgeweitet, neuerdings bis in den Südpazifik. Laut Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) muss Deutschland dafür „kriegstüchtig“ werden – vor allem gegen Russland. Dabei wurde der deutsche „Verteidigungs“-Haushalt schon lange vor dem russischen Eingreifen in der Ukraine massiv erhöht. Von 2014 bis 2021 wurde der Etat von 32,4 Milliarden auf 46,93 Milliarden Euro gesteigert. 2024 umfasst er nunmehr 59,9 Milliarden mit zusätzlich 19,8 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen Bundeswehr“, das sind fast 80 Milliarden Euro.
Parallel dazu erleben wir den Niedergang des Bildungswesens und des Gesundheits- und Pflegewesens. Investitionen in den Klimaschutz, die Energiewende, die Infrastruktur und das Verkehrswesen, vor allem bei der Bahn und beim ÖPNV, bleiben aus – obwohl die Wichtigkeit all dieser Bereiche in Sonntagsreden immer wieder gepredigt wird.
Vor allem aber geht es den Errungenschaften des bürgerlichen Sozialstaats an den Kragen, so wie er in den Jahren nach dem Sieg über den deutschen Faschismus auch in der BRD im Wettbewerb mit der DDR aufgebaut worden war.
Zwei Säulen
Wie in anderen entwickelten europäischen kapitalistischen Staaten besteht das deutsche soziale Sicherungssystem im Wesentlichen aus zwei Säulen: einmal die klassische, auf Beiträgen in erster Linie im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis basierende Sozialversicherung (Alterssicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung), die als Reaktion auf die Arbeiterbewegung in Deutschland schon seit der Bismarckzeit Schritt für Schritt entwickelt wurde. Zum anderen – beginnend in der Weimarer Republik mit der Reichsfürsorgepflichtverordnung und auch in der Tradition der kirchlichen und lokalen Armenfürsorge – ein staatlich verantwortetes Fürsorgesystem für in Not geratene oder sich in besonderen Lebenslagen befindende bedürftige Menschen.
In der BRD wurde dieser Fürsorgebereich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der übrigen obersten Gerichte seit den 1950er- und 1960er Jahren näher bestimmt. Aus dem Leitbild der Menschenwürde nach Artikel 1 Grundgesetz (GG), verbunden mit dem Grundsatz „des demokratischen und sozialen Rechtsstaats“ nach Artikel 20 Absatz 1 und 3 beziehungsweise Artikel 28 GG, ergibt sich auch ein „Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“. Für dieses müsse der Staat bürgen. Die Folge war zunächst das Bundessozialhilfegesetz ab 1962. In den Jahrzehnten danach wurden, vorgeblich zur Verbesserung der Deckung verschiedener Förderbedarfe, zahlreiche Fördergesetze für alle möglichen Bereiche erlassen, auch mit immer neuen Verwaltungsstrukturen.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte außerdem 1967 gefolgert, dass der einzelne „mündige Bürger“ nicht lediglich ein Objekt staatlicher Fürsorge sein dürfe, sondern vielmehr dem Staat als Subjekt mit eigenen individuellen Rechtsansprüchen gegenüberstehe. Im Konfliktfall müsse er diese bei einem Gericht einklagen können. Dies gelte nicht nur für die klassische Sozialversicherung, sondern auch für die nicht auf Beiträgen beruhenden Fürsorgeleistungen.
Die Realität sieht allerdings anders aus. (Siehe Teil 1 der Serie: UZ vom 25. Oktober)
Prekäre Arbeitsverhältnisse – wachsende Armut
Nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts arbeiteten 2023 von den insgesamt 46 Millionen Erwerbstätigen etwa 80 Prozent in „Normal“-Arbeitsverhältnissen, einschließlich von Teilzeitbeschäftigten bis 20 Wochenstunden. Jeder Fünfte abhängig Beschäftigte arbeitete somit in „atypischen Arbeitsverhältnissen“, war also prekär beschäftigt. Vor allem waren nur noch drei Viertel aller Erwerbstätigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Eine der Folgen: Inzwischen beziehen mehr als eine Million Menschen in Deutschland auch nach 45 Beitragsjahren weniger als 1.200 Euro Altersrente. In Ostdeutschland ist es jeder Dritte. Dabei sind von Altersarmut vor allem Frauen betroffen.
Trotz der von Sozialverbänden gebetsmühlenartig wiederholten Warnungen steigt die Zahl der Menschen, die im „reichen“ Deutschland als „arm“ beziehungsweise „armutsgefährdet“ gelten. Nach einer Mitteilung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) vom 8. August verfügten im vorigen Jahr 14 Millionen Menschen monatlich über weniger als 1.480 Euro. Offiziell gilt also jede sechste Person als armutsgefährdet. Ohne den Bezug von Mindestsicherungsleistungen für Bedürftige (insbesondere Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter) wäre es sogar jede vierte Person – über 20 Millionen Menschen.
Die Zahl der Menschen, die ein Leben in Würde – einschließlich einer ordentlichen Wohnung – aus eigenen Mitteln nicht mehr finanzieren können und die auf die „Gewährung“ ergänzender Sozialleistungen angewiesen sind, steigt immer weiter.
Arm und Reich
Zugleich klafft die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter auseinander. Schon 2022 hatte die bpb festgestellt, dass in Deutschland die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens halten. Allein 1 Prozent der Reichsten verfügt über 18 Prozent davon.
Namentlich liegt der ganz überwiegende Teil des Produktiv- und Dienstleistungsvermögens sowie des Finanzkapitals sowie auch der Medien und der bewusstseinsbildenden Unternehmen in den Händen einer verschwindend kleinen Minderheit. Diese nutzt ihre Möglichkeiten, um ihre eigenen Interessen, Absichten und auch Gesetze durchzusetzen. Entsprechend steuert sie maßgeblich die Tätigkeit der wirtschaftlichen Verbände und politischen Organe, der Medien und damit auch das Bewusstsein der Menschen in immer größerem Umfang.
Zersplitterung der Sozialleistungen
Wie erwähnt gab es in Deutschland seit der Weimarer Republik neben dem klassischen System der Sozialversicherungen bei besonderer Bedürftigkeit ursprünglich nur eine ergänzende staatliche Sozialleistung: die der „Fürsorge“. Aus ihr wurde der Anspruch auf Sozialhilfe entwickelt.
Heute gibt es eine verwirrende Zahl verschiedenster Ansprüche nach zig Bundes- und Landesgesetzen. Um nur einige aufzuzählen: Lastenausgleichs- und Reparationszahlungen, Versorgungsgelder, Berufsbildungs- und Ausbildungsförderungsleistungen, Übergangsgelder, Gründungszuschüsse, Elterngeld, Kindergeld, Kindergeldzuschüsse, Unterhaltsvorschussleistungen, Erziehungs- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Arbeitslosenhilfe, Grundsicherung im Alter, Bürgergeld. Mit dieser Flut sollen angeblich alle möglichen besonderen Hilfebedarfe abgedeckt werden. Im Ergebnis aber ist dadurch das gesamte System immer komplizierter, undurchsichtiger und unwirksamer geworden. Dabei überschneiden sich die verschiedenen Leistungen häufig beziehungsweise werden aufeinander angerechnet – bei teilweise unterschiedlichen Bedürftigkeitsmaßstäben. Das Ergebnis: Fachleute und die Behörden selbst blicken oft nicht mehr durch, von den betroffenen Menschen ganz zu schweigen.
Die verschiedenen Behörden konkurrieren weiter darum, Leistungen nicht erbringen zu müssen, da ihr finanzieller Spielraum immer weiter eingeschränkt wird.
Zugleich werden die Bewilligungs- samt den regelmäßigen Überprüfungsverfahren bei den verschiedensten Ämtern immer aufwendiger. Wer beispielsweise einen Antrag auf Leistungen nach dem BAföG stellen will, muss derzeit ein achtseitiges Antragsformular ausfüllen, dazu kommen bis zu acht Anlageformulare. Es können also bis zu 35 Seiten bei einer Regelbewilligungsdauer für ein Jahr zusammenkommen.
Für „Hilfeberechtigte“, vor allem für Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibkenntnissen, wird es immer schwieriger – wenn nicht unmöglich –, die Anträge selbstständig auszufüllen. Hinzu kommen die ausufernden Anlagen inklusive der geforderten Nachweise. Dabei drohen bei „nicht wahrheitsgemäßen Angaben“ gravierende Rückforderungen und sogar Betrugsvorwürfe.
Die Erhöhung der zu prüfenden Angaben führt zusammen mit dem häufig notwendigen Abgleich unterschiedlicher Stellen zu immer längeren Bewilligungsverfahren. Kommt dann auch noch Personalmangel dazu, bleibt von den Rechtsansprüchen und letztlich der „Würde des Menschen“ wenig übrig. Sozialberatungen finden bei mehr als der Hälfte der Hartz-IV-Bescheide teils gravierende Fehler. Da sich auch die Widerspruchsverfahren durch überlastete Behörden hinziehen, bleibt vielen Betroffenen nur der Weg zum Gericht.
Rechtswirrwarr
Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum für Sozialleistungen im Streitfall verschiedene Gerichte mit ganz verschiedenen Verfahrenskostenregelungen zuständig sind. Im Interesse der Hilfesuchenden liegt der Wirrwarr von Sozialgerichten, Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten sicher nicht. Er übersteigt auch die Regelkenntnisse von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten. Diese scheuen inzwischen die Übernahme von entsprechenden Mandaten, von den vergleichsweise mäßigen Gebühren bei Streitigkeiten vor den Sozialgerichten – bei vergleichsweise großem Aufwand – einmal ganz abgesehen.
Auch die Gerichtsverfahren dauern immer länger. Bei Klagen an den Sozialgerichten (Sozialhilfe, Bürgergeld) oder den Verwaltungsgerichten (Jugendhilfe, BAföG) muss mit einer Verfahrensdauer von ein bis zwei Jahren in der ersten Instanz gerechnet werden. Ebenso bei den Finanzgerichten, wo es ums Kindergeld geht. Zum Vergleich: In vermögensrechtlichen Streitigkeiten vor den Zivilgerichten wird in aller Regel innerhalb weniger Monate verhandelt und alsbald entschieden!
Die Instrumente der Beratungshilfe oder auch der Prozesskostenhilfe (PKH) vor Gericht, die bedürftigen Bürgern zu ihren Rechten verhelfen sollen, wurden ihrerseits mit immer komplizierteren Antragsverfahren verbunden. Auch deshalb machen selbst engagierte Anwälte eher einen Bogen darum.
Soziale Distanz
Bei den beteiligten Behörden fällt auf, dass dort statt engagierter Sozialarbeiterinnen immer mehr sogenannte Fall- oder „Case Manager“ das Sagen haben. Sie arbeiten – auch angesichts der Fülle der Anträge und Kompliziertheit der Ansprüche – ihre „Fälle“ schematisch und „nach Aktenlage“ ab. Das führt dazu, dass Betroffene zwischen Behörden und Zuständigen hin und her irren und verstärkt den Eindruck haben, abgeschoben zu werden. Selbst wenn es noch engagierte Sachbearbeiterinnen gibt, stehen deren Entscheidungen unter dem finanziellen Druck der beteiligten Wirtschaftsabteilungen. Immer häufiger wird nach Budgets geschaut und nicht nach dem persönlichen und menschlichen Bedarf der „Hilfeberechtigten“.
Zu den Problemen, die den Sozialleistungssystemen durch politisches Handeln zugefügt wurden, tritt die damit einhergehende Propaganda. Leistungsberechtigte mit Rechtsansprüchen werden durch gezielte Kampagnen als Schmarotzer zulasten der Allgemeinheit dargestellt. Das macht auch vor Behörden und Gerichten nicht halt.
Mein persönlicher Eindruck als langjähriger Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Sozialleistungen ist, dass bei den entscheidenden Personen in den Behörden und Gerichten die soziale Distanz zunimmt. Dabei mischt sich die eigene Hilfslosigkeit mit einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der betroffenen Menschen, aber auch mit den durch Propaganda verbreiteten Vorurteilen. Meines Erachtens entspricht dies einer allgemein wachsenden Resignation gegenüber den Ungerechtigkeiten unserer privatkapitalistisch dominierten Gesellschaft, parallel zu einer gleichzeitig zunehmenden Entsolidarisierung und „notgedrungenen“ Ich-Bezogenheit der Menschen.
Unser Autor war als Anwalt in Stuttgart tätig. In der kommenden Woche berichtet er über die Gefahren, die eine Zerstörung des Sozialsystems für die bürgerliche Demokratie erzeugt.