Wenige wissen die Zerstörung des Menschen im Imperialismus so eindringlich vorzutragen wie der Literaturwissenschaftler und Philosoph Thomas Metscher. Die physische und psychische Verelendung des Menschen im Imperialismus erfasst er nicht als dem Unvermögen des Individuums anzulasten, sondern als Ergebnis der Zerstörung der Vernunft. „Die Denunziation der Vernunft nützt allemal denen, die Macht haben und Herrschaft ausüben, nicht denen, die von Macht und Herrschaft ausgeschlossen sind.“ Und folgerichtig die Aufgabe abgeleitet: „Wenn es darauf ankommt, die Welt zu verändern, so ist der theoretische Begriff, der sie interpretiert, unverzichtbar. Er ist Bedingung ihrer Veränderung. Angesicht des scheinbar unaufhaltsamen Triumphs des Kapitalprinzips, der zunehmenden Aggressivität der imperialistischen Kernländer, der militärischen Durchsetzung ihrer globalen Herrschaft ist die Verteidigung der Vernunft heute die erste theoretische Aufgabe. … Dabei geht es nicht darum, diesem Missverständnis ist sofort entgegenzutreten, das Wirkliche als vernünftig zu erkennen, es geht um Vernunft in einer widervernünftigen Welt, deren Widervernünftigkeit gleichwohl der Vernunft zugänglich ist, von ihr erkannt werden kann.“ (Thomas Metscher: Logos und Wirklichkeit. Frankfurt/Main, 2010, S. 125). Dieses Ziel verfolgt die DKP mit der Bildungszeitung „Reaktionärer Staatsumbau. Integration – Formierung – Manipulation“.
Thomas Metscher hat sich in einer Zuschrift „hellauf begeistert von der Bildungszeitung“ gezeigt. Die Bildungskommission hat ihn um einen flankierenden Beitrag gebeten, den wir den Lesern der UZ hier vorlegen. Ursula Vogt
In seiner Grundverfassung und auf allen seinen Feldern ist der entwickelte Imperialismus das Gegenteil des homogenen Herrschaftssystems, als das er auf den ersten Blick erscheint. Er ist von Rissen und Widersprüchen größter Ausmaße durchzogen, trägt in sich ein Widerspruchspotential, das den Keim letaler Konflikte (so menschheitsbedrohender Kriege), aber auch die Möglichkeit sozialer Revolutionen enthält; auch dort, wo die Betroffenen kein Bewusstsein dieser Konflikte besitzen. Nach wie vor, und der objektiven Möglichkeit nach stärker als je zuvor, ist diese Welt eine solche, die mit einer anderen schwanger geht. Wie nie zuvor aber ist sie zugleich und in der gegenwärtigen Lage dominant von ihrer eigenen Vernichtung bedroht. Was sein wird, weiß sie nicht. Was sie mit Sicherheit erwarten kann, sind die „Erdbeben, die kommen werden“ (Brecht, „Vom armen B. B.).
Konstitutioneller Irrationalismus
Eine Charakteristik des Imperialismus von so grundlegender Bedeutung, dass sie alle geistigen Lebensäußerungen der spätimperialistischen Gesellschaft auf die eine oder andere Weise affiziert, ist, was der konstitutionelle Irrationalismus des Imperialismus als Gesamtsystem heißen kann. An dieser Stelle nur dieses: Mit dem Begriff ist gemeint, dass die imperialistische Gesellschaft, weit stärker als die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in ihren früheren Phasen, über keine gesamtgesellschaftliche Rationalität mehr verfügt. Sie ist so wenig zu einem die Gesamtgesellschaft betreffenden ökonomischen wie politischen Handeln imstande wie zu einer umfassenden Theorie ihrer selbst. Irrationalität und Widersinn sind ihr eingeschrieben. Gehandelt wird allein noch „punktuell“, nach den Anforderungen einer momentanen „Lage“. Zunehmend nimmt der Imperialismus zu Handlungen seine Zuflucht, deren Folgen er nicht mehr einzuschätzen vermag, deren Konsequenzen für die Weltzivilisation aber verheerend sein können. Nicht nur für die Weltzivilisation, auch für ihn selbst: ohne es zu wissen, untergräbt er die Grundlagen seiner eigenen Existenz und sieht sich in der Lage des Hexenmeisters, der die Geister, die er rief, nicht mehr bändigen kann. Die Gefahr globaler Katastrophen ist deshalb heute so real wie nie zuvor in der Geschichte.
Die Logik, der der Imperialismus folgt, ist die Logik der Unterwerfung. Sie gehorcht dem Zweck des Profits. Die Rationalität imperialistischer Herrschaft ist diesem unterworfen. Die ideale Form dieser Herrschaft ist die dem Anschein nach gewaltlose Herrschaft des Markts und marktkonformer sozialer Verhältnisse, die durch den Markt selbst (Konsum), die Fetische des Markts und marktkonforme Ideologien erzeugt wird. Direkte Gewalt (Zwang) kommt zum Einsatz, wo solche Verhältnisse erst noch geschaffen werden müssen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak als jüngste Beispiele) oder durch radikal demokratische oder gar sozialistische Umtriebe bedroht sind (Irland 1916, Deutschland 1918, Spanien, Kongo, Chile). Dann freilich schreckt das Kapital vor keinem Verbrechen zurück und ohne Skrupel entledigt es sich den Behinderungen rechtsstaatlicher Legitimation. Auch der Faschismus, erinnere ich, ist eine Form des Kapitalismus. Bei beiden Formen der Herrschaft, der Herrschaft durch Integration (formal demokratisch und hegemonial) und der Herrschaft durch Zwang spielen Ideologie und Medien eine unentbehrliche, wenn auch im Charakter unterschiedliche Rolle. Gehört es zur Struktur hegemonialer Herrschaft, der Opposition eine bestimmte, wenn auch begrenzte Rolle zuzugestehen (ja für hegemoniale Herrschaft ist Opposition im bestimmten Umfang unentbehrlich), so bedarf die Herrschaft durch Zwang Szenarien, die einen Notstand ausrufen (gegebenenfalls auch schaffen), die Einschränkung oder Liquidation demokratischer Rechte durch extreme Bedrohung rechtfertigen durch Feindbilder rassistischer und/oder politischer Natur, Sendungsideologien und Mythen unterschiedlicher Art.
Integriert und stillgelegt
Die normale (und vom Standpunkt der Bourgeoisie erstrebenswerte) Gestalt ausgeübter Herrschaft in der spätimperialistischen Gesellschaft freilich sind Formen von Herrschaft, in denen die Beherrschten integriert und so stillgelegt sind, die Hegemonie der herrschenden Klasse, der Konsens der Unterworfenen zu ihrer Unterwerfung hergestellt ist. Dies geschieht auf verschiedenen Wegen und durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Mächte. Dabei ist wichtig festzuhalten: imperialistische Herrschaft wird konstituiert durch das Zusammenspiel von Mächten, das sich funktional vollzieht, doch nicht notwendig von einem regieführenden Überhirn geplant wird (obwohl solche Planung durchaus vorkommen kann). Diese Mächte haben in einem bestimmten Sinn ideologischen Charakter. Sie fungieren als Elementarideologien. Sie sind in Basisprozessen menschlicher Reproduktion verwurzelt und entfalten von daher eine Psyche, Bewusstsein und Leiblichkeit formierende (genauer: deformierende) Gewalt. Ihre Wirkung – die Resultante ihres Zusammenspiels – ist die Konstitution von Herrschaft. Dieser Zweck wird von einer Vielzahl von Formen bewirkt. Im „Normalfall“ also ist imperialistische Herrschaft der Effekt vielfältiger Mechanismen, die im Einzelnen wie im Ganzen die Unterwerfung, Entmündigung und Eingliederung der Menschen besorgen. Sie haben im Einzelnen wie im Ganzen den Charakter von Gewalt.
Die erste dieser Gewalten sind die Mächte des Markts: Warenfetisch und Geldgötze, denen sich als dritter im Bunde der Sexfetisch an die Seite stellt. Konsum, Sex und Geld haben als neue Götter den Olymp der alten verdrängt. Hinzu tritt, als jüngster der neuen Götter und Stifter einer global herrschenden neuen Religion, „König Fußball“, das stärkste Opium des Volks im Zeitalter des globalen Kapitals, zu Hoch-Zeiten nationaler und internationaler Meisterschaften der erste Fetisch des Bewusstseins, in seiner freundlichsten Erscheinung eine Ersatzreligion mit eigenen Ritualen, Gemeinden und Sekten, in seiner abstoßendsten Form eine Massenhysterie mit Todesfolge. In seinem prosaisch-ökonomischen Wesen ist er Teil der Welt des Markts.
Der Imperialismus schafft anthropologische Fakten: die Reduktion der Menschen auf ihre Elementarbedürfnisse – „Shoppen und Ficken“ (Mark Ravenhill) als Götzen der schönen neuen Welt des zu sich selbst gekommenen Kapitals. Sie beherrschen Psyche, Bewusstsein und Leiblichkeit der Menschen, die ihnen ausgeliefert sind. Neben die Welt des Markts mit ihren vielfältigen Erscheinungen – die Basisreligion des emanzipierten Kapitalismus – tritt der gewaltige Bereich der Medien, der Unterhaltungs- und Bewusstseinsindustrie als zweiter Kernbereich in der kulturellen Topographie des Imperialismus, an seiner Spitze Fernsehen, Video und Internet. Zählt man den illegalen Sektor hinzu, so offerieren diese drei ein schier unbegrenztes Angebot für die normalen wie die ausgepichtesten Bedürfnisse und Gelüste zwischen den Extremen von Matthäuspassion und pädophilem Porno, Gewalt in allen denkbaren und undenkbaren Varianten. Ist es ein Wunder, dass solche Mächte in ihrem Zusammenwirken die gründlichste Zerstörung des Menschen betreiben? Ein Wunder wäre es, wenn es nicht so wäre. Die Deformation der Psyche, die Zurichtung der Körper, der Zerfall des Bewusstseins sind unhintergehbare Tatbestände der kulturellen Verhältnisse des späten Imperialismus und jeder Kampf gegen diese Verhältnisse hat an diesen Tatbeständen seinen Ausgang zu nehmen. Von entscheidender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt die Macht der Medien.
Pathische Gesellschaft
Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei, dass der Vorgang der Integration, die Konstitution scheinbar gewaltfreier Herrschaft im späten Imperialismus ein in Wahrheit höchst gewalttätiger Prozess ist, auch dort, wo die Schmerzen nicht physisch erfahren werden. Es ist ein Vorgang der Deformation, der Zurichtung der Menschen ganz: physisch, psychisch, geistig; ein Vorgang der De-Subjektivierung, an dessen Ende der Mensch mit zerstörter Leiblichkeit, der Mensch ohne Erinnerung, Seele und Vernunft steht (die Literatur hat ihn in ihren Angstträumen vorausgesehen) – das exakte Gegenteil dessen, was der Begriff der autonomen Person einmal meinte: das sich selbst bestimmende, rational über sich verfügende Subjekt. Anonymität und Subjektlosigkeit sind das implizite Ideal des Imperialismus als Herrschaftssystem: die Figur des immergleichen Käufers, williges Objekt einer scheinhaften, in der Substanz immergleichen Warenwelt, Konsument eines immergleichen Sex, Migrant immergleicher Reiseziele, der ewige Trolleyfahrer, von der Wiege bis zum Grabe versorgt vom omnipräsenten Markt. Der Zurichtung der Bedürfnisse, Desubjektivierung und Deformation entspricht die Pathologisierung der Massenpsyche, als Quellgrund von Kriminalität, Aggression, Gewalt, Rassismus, Sexismus und faschistoiden Dispositionen jeder Spielart. Pornographie und Drogen (in allen Varianten) sind Nebeneffekte eines Zustands, in dem der Einzelne als Person nichts zählt. In allen diesen Formen vollzieht der Imperialismus die Zerstörung des Menschen, seine Verwandlung in die Käfergestalt des Konsumenten, die Lemurengestalt des Untertanen, die gnadenlose Annihilation derer, die, aus welchen Gründen immer, aus dem Kreislauf seiner Reproduktion herausfallen. Er ist bis auf die Knochen geprägt von der völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Einzelnen.
Eine Gesellschaft, die solche Zustände hervorbringt, und zwar notwendig und massenhaft hervorbringt, kann nicht anders als eine pathische Gesellschaft beschrieben werden: als faulend und krank. Ihre Analyse hat den Charakter einer Pathologie, ihre Herkunftsgeschichte den einer Pathogenese. Der pathischen Gesellschaft entspricht ein pathisches Bewusstsein, entspricht die Erkrankung der Seele, des Körpers und des Intellekts. Pathische Gesellschaft meint, dass diese Gesellschaft Deformationen des Körpers, der Seele und des Bewusstseins produziert, die in keinem individuellen Defekt, sondern in der Verfassung dieser Gesellschaft selbst ihre Ursache haben. Dies ist der Fall in einer Gesellschaft, in der Herrschaft, Profit und Besitz die höchsten Werte sind, die „Plusmacherei“ der kategorische Imperativ praktischen Handelns ist, die Allianz von Kapital und politischer Macht die Weltherrschaft erobert. Genau dies aber ist das Daseinsprinzip des entwickelten Imperialismus. In ihm ist die Psychose der anthropologische Normalzustand.