Medien, Abgeordnete und alte Führung arbeiten an der Absetzung von Parteichef Corbyn

Zerbricht Labour?

Von Hermann Glaser-Baur

In hartem Ton wird die Auseinandersetzung innerhalb der britischen Labour-Partei, einer der ältesten sozialdemokratischen Parteien Europas, geführt. Das Ganze wird nicht nur verbal ausgetragen. Zerbrochene Scheiben von Wahlkreisbüros, Polizeischutz und „Ausgehverbot“ für Abgeordnete sind seit Monaten die Norm. Die Parlaments­abgeordnete Luciana Berger erhielt sogar eine Morddrohung mit dem Hinweis, sie werde „genauso enden wie Jo Cox“. Jo Cox war Labour-Abgeordnete im Unterhaus und wurde eine Woche vor dem Votum über den Austritt aus der EU ermordet.

Jeremy Corbyn

Jeremy Corbyn

( YouTube/RevolutionBahrainMC/ CC BY 3.0)

Die Frage nach der Zukunft von Labour ist in Großbritannien ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt – spätestens seit der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn bei der Entscheidung über die Erneuerung des britischen Atom-U-Boot-Programms eine katastrophale Abstimmungsniederlage erlitt. Die Mehrheit „seiner“ Labour-Abgeordneten im Parlament folgte seiner ablehnenden Haltung nicht. Der „hard left“ (harter Linker) Vorsitzende – so die Charakterisierung seitens der „Financial Times“ – soll zum Abschuss freigegeben werden. Neu ist der Streit nicht. Seit Corbyns Wahl im vergangenen Jahr tobt die rechte Presse. Die in der Ära Tony Blair nach vorne katapultierten „New Labour“–Neoliberalen fürchten um Einfluss und Pfründe.

Ihre Bedenken sind – von ihrer Klassenposition aus betrachtet – nicht unberechtigt. Um die jetzigen Auseinandersetzungen in der Partei zu verstehen, muss man die Veränderungen unter Blair kennen:

Nach seinem Kniefall vor Bush – „With you, whatever“ (Mit dir, gleich was kommt) und der „Jahrhundertlüge“ von den irakischen Massenvernichtungswaffen, die Großbritannien per Parlamentsabstimmung in einen Krieg gegen den Irak führte, setzten zum ersten Mal in der britischen Geschichte wichtige Teile des „militärisch-industriellen Komplexes“ auf die Sozialdemokraten. Also jene Fraktion der Bourgeoisie, die direkt am Krieg verdient, kehrte ihrem traditionellen politischen Arm, den Konservativen, den Rücken.

Nur so sind zwei Amtszeiten Blair zu erklären. Dieses Labour-“Hoch“ spülte jenen Sumpf von Karrieristen, „Vordenkern“ der neuen Ideologie und profillosen Abstimmungsmaschinen in der Partei nach oben, die Corbyn nun als Erbe übernommen hat. Solchen Leuten ist bereits ein friedensbewegter Parteichef – Corbyn kommt aus der Friedensbewegung – ein derartiger Dorn im Auge, dass sie aus allen Rohren Gift spritzen.

Ben Bradshaw, Abgeordneter aus Exeter, ist eines ihrer Sprachrohre: „So eine Situation entsteht, wenn man Protestler die Politik bestimmen lässt. Das Ergebnis ist Gewalt, Drohungen, Unruhe …“. Bradshaw, dessen Ausfälle die etablierten Medien gerne im Detail wiedergeben, fordert Corbyn theatralisch auf, seine „Schlägertruppen gegen moderate Parteimitglieder“ zurückzurufen – Corbyns Aufforderung, die Auseinandersetzungen in der Partei „freundlicher und mit weniger Bitterkeit“ zu führen, findet keinen Widerhall. Ein harter Linker muss Schläger auf seiner Seite haben, Punkt.

Corbyns Gegner haben zwar die Mehrheit der Medien auf ihrer Seite, doch ihr Problem wächst: Die Parteibasis. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten wächst die Labour–Mitgliedschaft, sogar um mehr als 180 000 seit dem Amtsantritt Corbyns. Seine Wahl und die damit verbundenen Hoffnungen auf die Rückkehr „echter“ Labour-Politik wurde von einer Sympathiewelle von unten begleitet, die in der neueren britischen Geschichte ihresgleichen sucht.

Eine wesentliche Rolle bei dieser Entwicklung spielt „Momentum“ (Impuls). Als Aktivistengruppe zur Unterstützung von Corbyns Kandidatur im vergangenen Jahr gegründet, nimmt Momentum derzeit besonders in den Arbeiterzentren die Form einer breiten Bewegung an. Ein Aktiver aus Birmingham sagte auf unsere Anfrage: „Bei der Wahlkampagne Jeremy Corbyns brachten wir 400 oder 500 Leute auf die Straße – jetzt, wo seine Position gefährdet ist, sind jedes Wochenende 1 500 Menschen auf den Beinen.“ Ähnliche Entwicklungen sind in Manchester, Sheffield und anderen Industriestädten zu sehen. Das wirkt in die Gewerkschaften. Zahlreiche Mitglieder, die aus Frust über die neoliberale Politik Labour verließen, kommen nun zurück.

Der Parteivorstand hat die Wahlkreis-Versammlungen bis Ende September ausgesetzt, um Ruhe einkehren zu lassen. Auf diesen Versammlungen müssen sich alle Mitglieder, die bei der Wahl zum Vorsitzenden abstimmen wollen, registrieren lassen, auch die durch Mitgliedschaft in Gewerkschaften „en bloc“ angeschlossenen sowie die Neuen, die bis zur Erlangung der Vollmitgliedschaft den Status von „Supportern“ (Unterstützer) haben und denen somit das Wahlrecht zusteht.

Diese Zeit werden die Gegner Jeremy Corbyns nutzen, zu versuchen, sich besser aufzustellen. Mit den Medien und der Mehrzahl der Abgeordneten im Rücken drohen sie damit, sich mit den Liberalen zu einer neuen „moderaten“ Partei zu verbinden. Sie haben allerdings keine Basis bei den einfachen Mitgliedern, keine „Gesichter“, die in der Arbeiterklasse anerkannt sind. Dies wird die Trumpfkarte Jeremy Corbyns sein, mit der er sich seine Wiederwahl sichern könnte. Was er daraus macht, wird – wie jetzt – vom „Impuls“ von links abhängen.

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"Zerbricht Labour?", UZ vom 29. Juli 2016



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