Marianne Wilke berichtete in Schulen und Jugendgruppen über das Leben während des Faschismus - aus Sicht eines Kindes

Zeitzeugin auf Augenhöhe

Ein Nachruf von Matthias Behring

Am 17. Juli ist mit Marianne Wilke eine der letzten Zeitzeuginnen des deutschen Faschismus gestorben. Unermüdlich und geduldig berichtete sie bis kurz vor ihrem Tod in Schulen und Jugendgruppen über ihr Leben in der Zeit von 1933 bis 1945. Sie tat das „immer auf Augenhöhe, stellte sich jeder Frage, die die meist jungen Menschen ihr stellten, sei sie auch noch so persönlich“ (Ulrike Jensen, KZ-Gedenkstätte Neuengamme).

Marianne Wilke stellte nicht die Grausamkeiten und Gewaltverbrechen in den Vernichtungslagern in den Vordergrund. Sie erzählte einfach authentisch von ihrem Alltag und ließ die Zuhörer teilhaben an Erlebnissen, die sie als Kind beschäftigt und auch geprägt haben. Sie wurde 1929 als Tochter von Adolf Karl Georg Lehmann, jüdischen Glaubens, und Lilly Lehmann in Hamburg geboren und wuchs mit ihrem Bruder Helmut in Eimsbüttel auf.

Meine Mutter sagt: „Ihr seid Juden“

Kurz vor ihrer Einschulung war Marianne mit ihrem Bruder auf die Straße zum Spielen gegangen, „da kam ein Junge auf meinen Bruder und mich zu. ‚Meine Mutter sagt: Ihr seid Juden!‘ Ich wusste gar nicht, wovon er spricht.“ Mit dem Begriff „Jude“ wusste sie nichts anzufangen, da die Religion in der Familie keine größere Rolle spielte. Sie berichtete auch von den Familientreffen, bei denen zwei Fragen immer präsent waren: „Kann es noch schlimmer werden?“ und: „Müssen wir aus Deutschland weg?“

Durch diese Gespräche, die ihr Bruder und sie heimlich belauschten, gewann sie den Eindruck, dass mit ihrer Familie „irgend etwas merkwürdig“ war. Durch diese Unterhaltungen erfuhren sie auch, dass ihr Vater „jüdisch“ war und sie „Halbjuden“, wie es diffamierend im NS-Sprachgebrauch hieß.

Vor Schülern beschrieb Marianne Wilke stets konkrete Situationen aus ihrer Schulzeit. Sie lernten im Unterricht, es gebe „deutsches und jüdisches Blut“ und dass das „jüdische Blut das schlimmste, niederste, furchtbarste Blut“ sei. „Nie dürfe sich deutsches und jüdisches Blut vermischen! … Das sei Rassenschande.“ Allmählich habe sie gemerkt, dass damit ihre Eltern gemeint waren.

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Marianne und Helmut Lehmann Ende der 1930er Jahre in Hamburg (Foto: privat)

„Spielt nicht mit den Lehmanns-Kindern“

Sie beschrieb, wie Juden öffentlich diffamiert wurden, wie sie als Kind an Litfasssäulen Darstellungen von Juden sah, in denen diese abschreckend hässlich mit langen Nasen dargestellt wurden. Sie berichtete von den Ausgrenzungen, die immer mehr zunahmen, von Parkbänken mit der Beschriftung „Nicht für Juden“ und von den Dingen, die nacheinander von Juden abgegeben werden mussten: Radiogeräte, Schreibmaschinen, Fahrräder … Ferner erzählte sie von der Straßenbahn, die keine Juden mehr mitnahm, und davon: „Ich vergesse nie“, wie eine Mutter ihren Kindern vom Balkon aus zurief, „Aber nicht mit den Lehmanns-Kindern spielen!“

Dabei war sie immer bemüht, niemandem Unrecht zu tun. So betonte sie, dass es ja nicht die Kinder selbst gewesen seien, die kein gemeinsames Spiel mehr wollten, sondern die Erwachsenen.

Die Männer in schwarzen Mänteln

Marianne Wilke ließ an ihren Gedanken teilhaben, die sie hatte, als ihre Mutter von Männern in schwarzen Mänteln in der eigenen Küche angebrüllt wurde, sie solle sich von ihrem Mann scheiden lassen. Die Mutter habe nur mit gesenktem Kopf dagesessen und sich gegenüber der Gestapo nicht geäußert. Marianne habe dies Verhalten der Mutter erschreckt, kannte sie die Mutter doch eigentlich sehr viel resoluter. Die Mutter ließ sich nie vom Vater scheiden, was diesem das Leben rettete, da er dadurch erst im Frühjahr 1945 nach Theresienstadt deportiert wurde und überlebte.

Sie berichtete, dass ihre Großeltern, Philipp und Henriette Lehmann, aus ihrer 3-Zimmer-Wohnung für zwei Jahre in ein Zimmer im Judenhaus umziehen mussten, und von ihrem Unbehagen, die Großeltern in dem kleinen Raum zu besuchen. Sie erzählte von den Einkäufen für die Großeltern, deren Lebensmittelkarten mit einem großen „J“ für Jude markiert waren. Oft wurde sie mit den Worten „An Juden verkaufe ich nicht!“ des Ladens verwiesen.

Am 6. Dezember 1941 erhielten die Großeltern den Deportationsbefehl. Sie wurden in Riga ermordet. Sie sprach auch von ihrem Onkel Hermann und seiner Frau Regina, die am 8. November 1941 nach Minsk deportiert und ebenfalls umgebracht wurden. Bekannte und Freunde im Ausland hatten die Notwendigkeit, eine Zuflucht zu ermöglichen, nicht erkannt.

Die Kraft der Solidarität

Marianne Wilke bot in ihren Zeitzeugenberichten aber auch stets eine Perspektive. Sie verwies darauf, wie wichtig es für sie und ihre Familie war, Solidarität zu erfahren: „Ihr könnt gar nicht ermessen, wie glücklich meine Mutter war, wenn sie morgens auf der Fußmatte eine halbe Flasche Milch oder zwei kleine Stückchen Kuchen oder etwas Brühe vorfand“ – still abgelegt vor der Haustür, als Zeichen, dass es Menschen in der Nachbarschaft gab, „die uns nicht verachteten, mit uns fühlten und das Unrecht sahen, das uns geschah“.

Sie erzählte von der Solidarität der Lehrerinnen, die dafür sorgten, dass ihr Bruder und sie bis 1943 in der Schule bleiben durften; über die Solidarität einer Lehrerin, die ihr darüber hinaus auch noch eine Arbeitsstelle im privaten Umfeld organisiert hatte, um sie vor der Zwangsarbeit in einer Fischfabrik zu bewahren; über die Solidarität von den Freunden der Eltern, die Bücher für die Kinder vorbeibrachten – „für uns Kinder eine unschätzbare Geste der Solidarität“.

Sie ergänzte dann: „Ich muss immer daran denken, dass Flüchtlinge, die noch nicht eingebürgert sind, und Sinti und Roma, die heute mancherorts noch immer als Zigeuner beschimpft werden, unsere Solidarität brauchen. Es ist heute genauso wichtig wie damals und ich weiß, wie uns das geholfen hat.“

Nach der Befreiung begann das wahre Leben

Marianne Wilke, ihr Bruder und ihre Eltern überlebten die Judenverfolgung in der Nazizeit. Nach der Befreiung waren Marianne Wilke und ihr Bruder sehr mit sich beschäftigt. Die versäumten Lerninhalte mussten in der Förderklasse nachgeholt werden. Es gab plötzlich Jugendgruppen, „in die wir eintreten konnten“. Die Guttempler waren die ersten, die fragten, ob sie mitmachen wolle, und sie machte mit. Kritik an schlechteren Leistungen in der Schule und zu den Sonntagsausflügen mit anderen Jugendlichen kommentierte sie im Nachhinein sehr klar: „Ich wollte in den Wäldern laufen, ich wollte mit der Jugendgruppe auf Fahrt gehen. Das war für mich das wahre Leben.“

In manchen Veranstaltungen fügte sie beim Bericht über ihre Schul- und Ausbildungszeit mit trockenem Humor ein: „Ein Klassenkamerad von meinem Bruder, Günther Wilke, mein späterer Mann, kam rauf, um mit meinem Bruder Schularbeiten zu machen. Später kam er dann auch rauf, ohne dass er Schularbeiten machen wollte.“ Nach der Förderschule besuchte Marianne die Helene-Lange-Schule in Hamburg und machte ihr Abitur. „Um keinen Preis“ wollte sie „etwas mit Erwachsenen zu tun haben“. Deshalb ging sie ab 1950 zum Fröbelseminar und machte dort 1951 ihren Abschluss, um als Erzieherin mit Kindern zu arbeiten.

Berichte zum Erleben der Nazizeit aus der Perspektive ihres Vaters und ihrer Mutter sind nicht vorhanden. Rückblickend sagte Marianne Wilke: „Leider war es so, mein Bruder und ich haben nicht gefragt, wir waren zu sehr mit uns selber beschäftigt.“

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Marianne Wilke mit Jugendlichen in der Stadtbücherei Wedel am 27. Januar 2023. Ihr Thema: „Wieso die Nazis Angst vor ‚Pünktchen und Anton‘ hatten“. (Foto: privat)

Es gab keine Stunde Null

Nach der Befreiung „schien es so, als seien die Nazis plötzlich verschwunden“. Mariannes Erwartung, dass sich alles ändern und es eine Stunde Null geben würde, dass die Nazizeit offiziell aufgearbeitet würde, zerschlug sich schnell. Als die Nazis wiederkamen war die Enttäuschung bei ihr, ihren Eltern und Freunden groß. „Die Straßen waren noch voller Trümmer“, da gab es bereits wieder Nazis und eine Nazipartei. Bereits fünf Jahre nach dem Krieg gab es unter anderem die „Deutsche Sammlungsbewegung“. Marianne zitierte aus einem Flugblatt: „Wir wissen, was man euch angetan hat.“ Gemeint waren die Nazis, deren Ideologie verboten worden war und die in den ersten Jahren nach dem Krieg zum Teil ihre Ämter verloren hatten. Die Täter wurden zu Opfern. So war die erste Forderung auf diesem Flugblatt das Ende der Entnazifizierung.

Haft für die „Besetzung“ Helgolands

Als Mitglied der Guttempler gehörte Marianne zu den „Besetzern“ von Helgoland. Am 31. März 1951 erreichte sie mit 14 anderen Jugendlichen – nach zwei misslungenen Anläufen – die Insel, um deren Freigabe vom britischen Militär zu erreichen. Sie hissten drei Flaggen: die Helgoländer, die deutsche und eine mit Friedenstaube. Am dritten Tag gelang es der Polizei, die Jugendlichen abzuführen und nach Kiel ins Gefängnis zu bringen. Das Gerichtsverfahren fand vor dem britischen Militärgericht statt. Dass die Männer der Gruppe im Gegensatz zu den Frauen nicht freigesprochen wurden, konnte Marianne nicht unkommentiert lassen. Das Resultat: Aus ihrem Freispruch wurde eine Haftstrafe von zweieinhalb Monaten. Nach zwei Wochen Haft kam sie auf Bewährung wieder frei.

Berufsverbot wegen der Gesinnung

Im Jahr ihrer Beteiligung an der „Besetzung“ von Helgoland 1951 wurde Marianne Mitglied der KPD, später trat sie in die DKP ein. Aufgrund ihrer kommunistischen Weltanschauung verlor sie ihren Arbeitsplatz im Kindergarten und machte eine weitere Ausbildung zur Altenpflegerin.

Ihren Mann Günther Wilke heiratete Marianne 1952. Sie bekamen drei Söhne. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie Gründungsmitglied der Wedeler Gruppe „Kampf dem Atomtod“. Sie nahm mit Beginn der Ostermärsche regelmäßig an den Friedensdemonstrationen teil und organisierte Gedenkveranstaltungen zu Hiroshima mit.

Von großer Bedeutung war für Marianne die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), später der VVN-BdA, deren Ehrenvorsitzende sie in Schleswig-Holstein war. In der VVN fand sie Menschen, die Ähnliches erlebt hatten wie sie selbst, Menschen, die den Schwur von Buchenwald lebten: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ In diesem Schwur sah Marianne für sich immer auch eine Verpflichtung ihren Angehörigen gegenüber, die durch die Nazis umgebracht worden waren.

Die VVN half, die Sprachlosigkeit zu überwinden

In der VVN konnte sie ihre „tiefe Verunsicherung“ und „ein tiefes Misstrauen allen Erwachsenen gegenüber“ überwinden. Sie habe nach dem Faschismus um keinen Preis … etwas mit Erwachsenen zu tun haben“ wollen – auch weil sie sich die Frage stellte, ob diese Schuld an der Ermordung ihrer Großeltern und Verwandten hatten. Viele Jahre hat diese Erfahrung sie begleitet, gehemmt und ihr Handeln bestimmt. In der VVN traf sie auf Menschen, die sagten, man muss über den Faschismus reden. „Wenn die staatliche Seite keine Aufklärung gibt, dann müssen wir es machen“. Das tat sie mit großer Leidenschaft und Ausdauer.

Für ihre langjährigen Bemühungen im Rahmen der Zeitzeugentätigkeit erhielt Marianne Wilke im Jahr 2015 das Bundesverdienstkreuz. Mit großem Stolz erfüllte sie aber vor allem der „Meilenstein“, die Auszeichnung des Verbandes deutscher Sinti und Roma e. V. Landesverein Schleswig-Holstein, den sie, ebenfalls 2015, für ihren Einsatz für die Anerkennung der Sinti und Roma als Minderheit in Schleswig-Holstein erhielt.

Die Kommunistin und Antifaschistin endete ihre Zeitzeugengespräche stets mit einem Zitat aus einem Song der „Ärzte“: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt so ist, wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“

Auf der Homepage der DKP Schleswig-Holstein kann man einen zweiteiligen Zeitzeugenbericht von Marianne Wilke aus dem vergangenen Jahr anhören.


Dieses Video mit Marianne Wilke aus dem Jahr 2021 hat das Hamburger Projekt „respekt* – gegen alle gleichgültigkeit“ aufgenommen.

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"Zeitzeugin auf Augenhöhe", UZ vom 25. August 2023



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