Tanja Cummings‘ „Linie 41“

Zeitgeschichte ohne Didaktik

Von Hans-Günther Dicks

Tanja Cummings und Natan Grossmann in Lodz

Tanja Cummings und Natan Grossmann in Lodz

( Marek Iwicki)

Natan Grossmann singt gerne und spontan, obwohl (oder weil?) es in seinem langen Leben oft wenig Anlass dazu gab. Denn der heute 88-Jährige, nahe der polnischen Stadt Lodz geboren und heute in München lebend, verbrachte seine Jugend im Lodzer Ghetto, danach im KZ Auschwitz, und verlor seine Eltern, seinen Bruder Ber und zahlreiche weitere Verwandte in den Lagern der Nazis. Mit dieser Vergangenheit hatte er eigentlich abgeschlossen, bis ihn die Dokumentaristin Tanja Cummings fand und mit ihm noch einmal an die Stätten seiner Kindheit fuhr. Das Ghetto Lodz lag – anders als die übrigen – mitten in der Stadt, und die mitten hindurch fahrende Straßenbahn „Linie 41“ erlaubte ihren ausschließlich nichtjüdischen Nutzern täglich einen Blick in diese fragwürdige „Sehenswürdigkeit“.

Noch einen zweiten ehemaligen Lodzer bringt Cummings in seine Kindertage in Lodz zurück: Jens-Jürgen Ventzki, Jahrgang 1944. Als Sohn des damaligen Nazi-Oberbürgermeisters Werner Ventzki erlebte er Lodz durch die Erzählungen seiner Eltern aus der Gegenperspektive, denn die Stadt sollte unter der Führung seines Vaters und dem neuen Namen Litzmannstadt ein Vorzeigeprojekt der Germanisierung in den besetzten Ländern werden. Ventzki hat seinem Vater, der erst 2004 unbehelligt und als angesehener Regierungsrat in Detmold starb, die Leugnungen und Lügen nie verziehen, mit denen seine Eltern auch nach 1945 jede Schuld von sich wiesen. Diesen Konflikt behandelt schon sein Film „Ventzki – Kinder der Täter, Kinder der Opfer“, und im Vergleich zu dem munter plaudernden und singenden Grossmann wirkt er mit seiner bescheidenen, doch markanten Präsenz in „Linie 41“ zeitweise fast wie eine Nebenfigur – bis Cummings die beiden bei einem weiteren, nun gemeinsamen Lodz-Besuch zu einer ungewöhnlich engen Freundschaft vereint.

Zeitzeugen im Dokumentarfilm, das heißt oft „sprechende Köpfe“ und wenig oder gar keine filmische Gestaltung. Nicht so bei Cummings. Sie führt ihre Protagonisten an immer neue Orte, folgt ihnen bei Begegnungen mit ehemaligen Nachbarn, in Archive, Gedenkstätten und die Universität Lodz, wo sie vor Studenten über ihre Erinnerungen Auskunft geben. So gewinnt ihr Film an Dynamik, wird quasi zum dokumentarischen „Road Movie“, dessen Spannungsbogen weniger aus den Ortswechseln als aus dem resultiert, was die beiden Zeitzeugen zu sagen und zu zeigen haben. So hat Ventzki bei den Fotos seines Vaters eines gefunden, auf dem ein SS-Mann einen bereits knienden Juden aus nächster Nähe mit der Pistole erschießt – ganz so wie auf dem berühmt gewordenen Foto aus dem Vietnamkrieg. Man erfährt von Plänen für einen großen „Litzmannstadt-Film“, von deren Realisierung Ventzki senior noch im Januar 1945 träumt. Präsentiert wird das alles ohne Aplomb, im unaufgeregten Ton des Reiseberichts, und wenn Grossmann sagt: „Ich hab‘ Glück gehabt, dass ich bin nach Auschwitz gekommen. Auschwitz war meine Rettung“, könnte man die in diesem Satz enthaltene Ungeheuerlichkeit fast überhören.

Cummings verzichtet auf große Anklagen, gibt nur das Nötigste an Sachinformation und verlässt sich weitgehend auf die emotionale Kraft ihrer Bilder. Kameramann Marek Iwicki folgt dem Geschehen flexibel und mit wachem Auge und schafft mit klug komponierten Einstellungen eine Stimmung zwischen Staunen und Nachdenklichkeit. Die Szenenübergänge, komponiert aus Zitattafeln und Storyboard-Zeichnungen, die dann mit Realaufnahmen überblendet werden, schaffen Ruhe und stimmen perfekt auf neue Entdeckungen ein. So entsteht eine Lektion in Geschichte, ohne vereinfachende Didaktik oder vorgestanzte Lerneinheiten und damit so modern, wie sie heute gebraucht wird.

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"Zeitgeschichte ohne Didaktik", UZ vom 6. Mai 2016



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