Anlässlich einer Lesung zu ihrem neuen Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen“ bemerkte die deutsche Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn: „Es würde gewiss nicht schaden, wenn die Westdeutschen sich intensiver mit den Verhältnissen in der DDR beschäftigten.“ Bis heute verletze sie „dieses nicht aufhören zu siegen“ der Sieger seit der feindlichen Übernahme durch die BRD. Auch dieses Gefühl sorgt dafür, dass sich – einer Umfrage der „Zeit“ zufolge – nur 26 Prozent der Ostdeutschen wohler fühlen als zu Zeiten der DDR. Eine kleine Fotoausstellung und -dokumentation hält gegen die offizielle Geschichtsumschreibung und stellt einiges klar. Beispiel ist ein kleines Dorf in Thüringen.
„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ begann die Nationalhymne der DDR von Johannes R. Becher und Hanns Eisler. Das ist wörtlich zu nehmen, mindestens für das kleine Dorf Altengottern. Doch bis heute wird den Menschen dort ihre Lebensleistung versagt. Ungefähr 12 Kilometer Luftlinie von der geographischen Mitte Deutschlands liegt das über 1.200 Jahre alte Dorf, 1.012 Einwohner. Der Ort war vorwiegend landwirtschaftlich geprägt und früher ein armes Weberdorf. 1949 kam die Wende.
Selbstgemachtes Wirtschaftswunder eines Dorfes
Mit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 zog der Sozialismus ein. Mit Kreativität, Erfindungsgeist und großem persönlichem Einsatz generierte das Dorf sein eigenes Wirtschaftswunder. Die Ausgangsbasis zwang zu unvergleichlichem Zusammenhalt und zur Solidarität – die Markenzeichen des Sozialismus. Auf die sind viele im Dorf bis heute stolz.
Hier gab es Landwirtschaft, Gartenbau und Tierproduktion. 1974 wurde in der MTS (Motoren- und Traktorenstation) und mit der LPG „Karl Marx“ die erste deutsche Kartoffellegemaschine entwickelt – patentiert und im gleichen Jahr auf der Leipziger Messe präsentiert. „Das Volk“ berichtete 1974: „Frauen haben’s nun leichter!“ Seit dem Jahr 1976 half dabei auch eine Steckzwiebeldrillmaschine. Im „Geschichtskabinett“ des Dorfes wurde die erfolgreiche Geschichte der LPGs „Karl Marx“ und „Große Wende“ aufgearbeitet. Bereits 1953 bis 1954 wurde die landwirtschaftliche Produktion um 28 Prozent, bis 1955 um 45 Prozent gesteigert. Und es ging weiter so. Ein Bewohner: „Wäre die LPG nicht gekommen, mancher ginge heute noch in Strümpfen.“
Arbeit gab es im Dorf immer
Tausende „NAW-Stunden“ des Nationalen Aufbauwerks wurden freiwillig geleistet, beispielsweise für den Sportplatz und für das Vereinsgebäude, für die Kinderkrippe, den Kindergarten oder für die sanitären Anlagen der Polytechnischen Oberschule. Heute würde man das modern Commons-Einsatz nennen, damals war es die „Mach-Mit-Bewegung“ zum Wohle der ganzen Gemeinde. Heute gibt es auch keine Schule mehr im Ort.
1950 bis Ende der 1960er Jahre wurden noch sechs Geschäfte, Milchläden, Einmachgeschäfte und drei Bäckereien geführt. Seit 1978 gab es eine Kaufhalle – „quadratisch, praktisch, gut“ und werbefrei, mit „WTB“ – Waren des täglichen Bedarfs. Sie wurden nach dem Zusammenbruch 1990 Opfer westdeutscher Einkaufsketten. Seit 1998 gibt es nur eine Fleisch- und Wurstwaren-Verkaufsstelle mit regionalen Thüringer Spezialitäten.
Seit 1968 wurden für den VEB „Pupina“ (die berühmte Waltershausener Puppen- und Spielzeugindustrie) Puppenkleider und ab 1976 der VEB „Mülana“ (Mühlhausen) angeschlossen und Obertrikotagen produziert. Es wurde viel in die BRD exportiert. 1990 kam das Aus für diese Produktion. Seit 1891 gab es drei Konservenfabriken. Eingemachte Gurken wurden auch in den „Westen“ exportiert. 1991 wurde die letzte Fabrik geschlossen. Sie wurde Opfer des kapitalistischen Wettbewerbswahns. Mit der Abwicklung der DDR durch „Unternehmensberatungen“ und die Treuhand gab es eine unvergleichliche Vernichtungswelle an erarbeitetem Volksvermögen. Von vier Millionen Arbeitsplätzen blieben 1,2 Millionen Das ging auch an Altengottern nicht spurlos vorüber.
Es begann ab 1989 erneut eine folgenreiche Abwanderung von Ost nach West. Doch „in der DDR war keine akute Wirtschafts- oder Versorgungskrise der Ausgangspunkt für den politischen Zusammenbruch. Die Mechanik des Zusammenbruchs wurde wesentlich durch die seit Sommer 1989 exponentiell zunehmende Übersiedlung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik vorangetrieben“, schreibt der Wissenschaftsdienst Berlin.
Kulturbewusst
Am Ort gibt es das wunderschöne Kulturhaus mit Gaststätte, Fest- und Kinosaal, Biergarten und kleiner Freilichtbühne. Früher wurde es zu allen Gelegenheiten gern genutzt. Der VI. Parteitag der SED 1963 forderte größere Anstrengungen, damit vernachlässigte Orte mehr Teilhabe an Kultur erhalten. Das spornte besonders die engagierte Bürgermeisterin Kläre Liebitz (1957 bis 1987, Trägerin der „Clara-Zetkin-Medaille“) an, die bis heute in positiver Erinnerung ist. Seit den 1960er Jahren existierte im Dorf ein Geschichtskabinett, die Dorfakademie, eine Tanzgruppe, Jugendkapelle und -chor, Laienspiel, Sportmöglichkeiten, der Dorfchor, ein Dorfensemble und ein Fotoklub. Die hier gezeigten Fotografien stammen vom Dorfchronisten Kurt Liebitz, der Mann von Kläre Liebitz. Bisher gab es hierzu drei bundesweite Ausstellungen.
Was geblieben ist
Geblieben sind Fußball, Blaskapelle, ein verwaister Tennisplatz – und die Schützenkompanie. Von vielen wird beklagt, dass der frühere Zusammenhalt dem Egoismus geopfert wurde. Man hört vor Ort: „Heute ist es so, dass jeder mehr haben will als der andere“, oder „Heute kämpft jeder gegen jeden“. Inzwischen gibt es im Ort auch keine Gaststätte mehr, um sozialen Austausch und dorfgemeinschaftlichen Zusammenhalt zu pflegen.
Bei dieser Fotoserie geht es darum, die Menschen in Altengottern und ihre Lebensleistung zu würdigen. Die meisten haben ihr gesamtes Leben dort verbracht. Es ist Zeit, ihnen die bisher verweigerte Anerkennung zu zollen.