Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben

Zeit des Aufstands

Von Klaus Wagener

„Chile: Eine Insel der Stabilität in Südamerika“, so glaubte der US-Think Tank Stratfor noch vor kurzem. Nun sind im südamerikanischen „Musterland“ Hunderttausende, mehr als eine Million Menschen auf den Straßen. Zahlreiche Menschen sind umgekommen, Tausende wurden verletzt, mehr als 10 000 verhaftet. Präsident Sebastián Piñera hat sowohl den Apec-Gipfel als auch die Weltklimakonferenz absagen müssen. Die Regierung hat in weiten Teilen die Kontrolle verloren.

„Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben“, schrieben Demonstranten auf ihre Plakate. Und in der Tat, der Neoliberalismus ist unmittelbar mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 verknüpft. Augusto Pinochet war der Kettenhund der „Chicago-Boys“, der eifrigen Jünger des marktradikalen Gurus Milton Friedman. Ohne Pinochets Mörderbande und ihre Rückendeckung aus Washington wäre es nicht gelungen, dem südamerikanischen Land einen riesigen sozialökonomischen Feldversuch aufzuzwingen. Chile ertrank nach dem 11. September im Blut der Linken und Demokraten. Maschinengewehre sorgten für die notwendige Friedhofsruhe. Südamerika geriet unter das Kommando brutaler Militärdiktaturen.

Die Frage der neoliberalen Glaubenskrieger lautete: Wie weit kann die Bereicherung der Reichen, der Raub von gesellschaftlichem Eigentum und die asoziale Verarmung getrieben werden? Die Ergebnisse dienten als Blaupause für die neoliberale Offensive Ronald Reagans und Margaret Thatchers. Und danach für die gesamte „westliche Wertegemeinschaft“. Neoliberalismus, ist der Krieg der oberen 0,1 Promille gegen die breite Bevölkerung. Neoliberalismus, das heißt aber auch Armee und Bürgerkriegspolizei.

Der Klassenkrieg der Superreichen ist nicht nur ein ökonomisch asoziales Programm. Die neoliberale Gegenreformation und ihre glühenden Jünger in den Redaktionsstuben und Parteien wollten eine fundamentalistische Gegenreform. Es war die Aufkündigung des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit. Neoliberalismus, das ist der Umbau der gesamten Gesellschaft, des kapitalistischen Verwertungsmodus, der Eigentumsverhältnisse, der gesellschaftlichen Institutionen, des theoretischen Denkens und der zwischenmenschlichen Verhältnisse. Alles soll dem Diktat des Maximalprofits unterworfen sein. Der Shareholder Value wurde zum Goldene Kalb der neuen Zeit. Der engherzig-egoistische Homo oeconomicus sein angehimmelter Superstar. Jede wurde mit jedem, alles mit allem in Konkurrenz gesetzt. Gewerkschaften wurden nur als Co-Manager geduldet. Gemeinschaft, Kollektivismus wurde zum Schimpfwort. Selbst Staaten müssen seither um die „Gunst der Investoren“ konkurrieren.

Alles muss billiger werden. Auch die Ernährung, auch die Arbeitskraft, auch die Steuern und Staatsausgaben (mit Ausnahme der Rüstung). Turbo-Fleisch zum Spottpreis, die Arbeitskraft für einen Euro, die Steuern durch 1 000 Steuertricks auf Null optimiert. Dazu das gesellschaftliche Tafelsilber verramscht. Der neoliberal zugerichtete Staat wird zum Bittsteller bei jenen, denen er zuvor die Steuer geschenkt hatte.

Die neoliberale Gegenreformation ist ein Prozess. Die Zurichtung und Verarmung der Gesellschaft braucht ihre Zeit. Es ist eine Bewegung zu den niedrigsten Standards. Nun, nach fast einem halben Jahrhundert wurde mit dem Ausbruch der Großen Krise 2007 klar: Der Neoliberalismus ist am Ende. Er hängt am Tropf der Zentralbanken. Er kann nur noch durch eine fortwährende gigantische Geldproduktion am Leben erhalten werden.

Und etwas anderes ist klar. Die Allmacht des US-Imperiums ist Geschichte. Venezuela, Syrien, Iran, Afghanistan, der lange Arm des Pentagon und der CIA reicht nicht mehr an jeden Ort. Die neuen „Spieler“ Russland und China haben auch für andere und auch für die Beraubten und Entrechteten neue Chancen eröffnet. Und eine Welle des Protests schwappt über den Globus. Es rumort in so vielen Staaten, dass der Platz hier nicht reicht, alle aufzuzählen. Die neoliberale Verarmung hat die Grenze des Erträglichen erreicht. Menschen gehen zu Hunderttausenden auf die Straße – selbst bei Gefahr, dort erschossen zu werden. Der Neoliberalismus ist am Ende – und nicht nur in Chile. Es kündigen sich revolutionäre Zeiten an.

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"Zeit des Aufstands", UZ vom 8. November 2019



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