Nach der Pleite von Lehman Brothers erhielt das Finanzkapital Milliardenkredite und eine Existenzgarantie

Zehn Jahre Staatsstütze

Von Lucas Zeise

Wenn ein Industrieunternehmen Konkurs anmeldet, ist das für Eigentümer ärgerlich, für die Lieferanten gefährlich, weil sie für die gelieferte Ware nicht bezahlt werden, und für die Beschäftigten eine ziemliche Katastrophe. Wenn eine große Bank pleite geht, ist die ganze Volkswirtschaft in Gefahr. Warum ist das so? Weil das gesamte Geldsystem von den Banken betrieben wird. Einfache Bürger und große Kapitalisten haben den bei weitem größten Teil ihres Geldvermögens in ihrer Bank oder ihren Banken statt als Bargeld unter der Matratze oder im Panzerschrank. Das ist noch nicht alles. Weil Banken ein Vielfaches des von ihnen verwalteten Geldvermögens ihrerseits als Kredit vergeben (oder als Wertpapiere halten), weil sie anders gesagt ein Mehrfaches ihres Eigenkapitals (= ihres eigenen Geldes) an Schulden haben, sind sie besonders gefährdet, pleite zu gehen. Ein Drittes kommt hinzu: Die Schulden haben sie zum einen Teil bei den Bürgern und Kapitalunternehmen. Das ist der solidere Teil. Sie sind andererseits kurzfristig untereinander verschuldet. Wenn eine Bank pleite geht, sind deshalb zugleich eine Reihe von Gläubigerbanken betroffen, die der Bank auf dem Geldmarkt unter Banken kurzfristig Geld geliehen haben, und nun selbst in akute Zahlungsschwierigkeiten geraten, obwohl sie selbst ansonsten durchaus profitabel wären.

Wir haben es dann mit einer klassischen Bankenkrise zu tun. Wenn jetzt nichts geschieht, gerät das Zahlungssystem aus den Fugen. Einige Banken können die Zahlungsaufträge ihrer Kundschaft nicht mehr ausführen. Die Empfängerbanken haben keine überschüssige Liquidität mehr, die sie den nach Geld gierenden Problembanken leihen könnten. Selbst wenn sie die Liquidität noch haben, hüten sie sich, es zu verleihen. Am Schluss verlangen die Bürger Bargeld aus ihren Bankguthaben oder zumindest sichere Staatsanleihen. Das ist der Bank-Run. Schulden können nicht mehr bezahlt und Rechnungen nicht mehr beglichen werden. Die Marktwirtschaft funktioniert nicht mehr.

Zum Glück kommt es so weit meist nicht. Zu unserem zweifelhaften Glück leben wir Bürger im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Dessen Regierungen ahnen, dass der freie Finanzmarkt der Staatshilfe bedarf und greifen vor diesem letzten Stadium ein. Wir sehen dann das Finanzkapital, die Finanzoligarchie oder ihre wichtigsten Vertreter in einem Raum oder zugeschaltet in Verhandlungen vereint. Meist ist es ein Wochenende, wenn der Finanzminister oder der Regierungschef selber, der Zentralbankchef und die Vertreter der wichtigsten Geschäftsbanken des Landes beraten, wie der Unfall zu beheben sei. Auch die Eigentümer der gefährdeten Bank sind zugegen. Sie haben aber nichts mehr zu sagen. Denn es geht nun darum, wie ein Rettungspaket geschnürt werden kann, das die Gläubigerbanken befriedigt. Dabei kann die gefallene Bank abgewickelt oder von einem oder mehreren Teilnehmern der Treffen der Oligarchen fortgeführt werden. Im zweiten Fall erhalten die Käufer billig eine Bank, denn der Staat (und der Einlagensicherungsfonds) tragen in beiden Fällen den größeren Teil der Kosten.

Vor der Pleite der New-Yorker Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 war es schon zu vielen solchen Rettungsaktionen gekommen. Denn die internationale Finanzkrise war bereits am 9. August 2007 offen ausgebrochen. Banken vor allem aus den hochentwickelten kapitalistischen Länder hatten in großem Stil in den US-amerikanischen Immobilienmarkt, also die Hypothekenschulden einfacher Lohnabhängiger aus den USA, investiert. Als die Immobilienpreise nach langen Jahren des Booms plötzlich fielen und viele Schulden aufs Eigenheim auch durch einen Verkauf nicht mehr bedient wurden, mussten weltweit reihenweise Banken vor dem Untergang gerettet werden.

Eine der ersten war die kleine Düsseldorfer IKB, für die der deutsche Finanzminister, ein gewisser Peer Steinbrück, geradezu liebevoll, ganz ohne Not, denn die IKB war winzig, mehr als 10 Mrd. Euro aus der Staatskasse zugab, um damit den Mehrheitseigentümer, die Allianz-Versicherung, zu schonen. Im März 2008 wurde die kleinste der fünf New-Yorker Investmentbanken Bear Stearns der Vollbank J.  P. Morgan übereignet, zusammen mit einer Garantie der Notenbank in Höhe von 30 Mrd. Dollar. Die Schweizer Eidgenossenschaft half mit sehr vielen Milliarden Franken der größten Bank des Landes, der USB (früher Schweizerische Bankgesellschaft – SBG) beim Überleben. Weitaus schlimmer und jenseits üblicher Operationen war allerdings die Rettung der beiden Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac. Deren an den Finanzmärkten der Welt umlaufende Schuldpapiere im Volumen von 5 Billionen (echte deutsche Billionen, als 5 000 Mrd.) Dollar wurden am 7. September, also eine Woche vor der Lehman-Pleite, explizit mit der Garantie der USA versehen. Zwei Tage nach dem Tod der Lehman-Bank retteten die US-Finanzbehörden die damals größte Versicherungsgesellschaft der Welt, AIG, vor dem Untergang.

Es gibt viele Gründe, warum Lehman Brothers diese Staatshilfe nicht gewährt wurde. Das lag zum einen daran, dass die Verhandlungen nicht mit der US-Finanzoligarchie allein, sondern auch mit Koreanern und anderen Ausländern geführt wurden. Zum anderen waren die Spitzen des Finanzministeriums und der Notenbank Fed ein wenig, sagen wir, ermüdet, weil laufend Finanznotfälle verhandelt werden mussten und sie den wohl zutreffenden Eindruck hatten, dass die Ressourcen des Staates über Gebühr strapaziert wurden. Der wichtigste Grund ist jedoch, dass Lehman Brothers keine kreditgebende Vollbank, sondern nur eine Investmentbank, also eine groß geratene Maklerfirma war.

Die Wirkung der Pleite war jedoch durchschlagend. Auch am Aktienmarkt begriffen die Akteure plötzlich, dass der internationale Finanzmarkt wackelte. Das bisher beruhigende Vertrauen, dass der Staat die Finanzunternehmen immer und jederzeit retten werde, wich blanker Angst ums investierte Geld. Die kapitalistischen Kernstaaten (plus China) machten sich mit Macht daran, dieses Urvertrauen der Bürger (und der Finanzkapitalisten) wieder herzustellen. Buchstäblich hunderte von Milliarden Dollar, Euro, Pfund und Franken wurden in den Erhalt des Finanzsystems gesteckt, dazu sehr viel Geld in die Realwirtschaft. Obwohl danach viel Tadel auf die „gierigen“ Banker prasselte, markiert die Lehman-Brothers-Pleite den Moment, in dem die einfache Wahrheit der kompliziert klingenden Theorie vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus von den Staatslenkern zur offiziellen Doktrin wurde: Immer und überall wird der Staat das Finanzkapital stützen. Wie nach der Sintflut wurde der Bund erneuert.

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"Zehn Jahre Staatsstütze", UZ vom 14. September 2018



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