Vernichtende Bilanz nach 20 Kriegsjahren

Zapfenstreich am Hindukusch

UZ sprach mit Michael Schulze von Glaßer, Geschäftsführer der „Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“ (DFG-VK)

UZ: Nach 20 Jahren haben die USA und ihre Verbündeten ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen. Wie fällt Ihre Bilanz dieses Krieges aus?

Michael Schulze von Glaßer: Katastrophal. Seit Beginn der Intervention im Jahr 2001 gab es allein über 47.000 zivile Tote – und das waren nur die direkten Opfer des Krieges. Durch die Zerstörung von Infrastruktur – etwa dem Zugang zu Wasser oder auch zu medizinischer Versorgung – gab es auch zehntausende weitere indirekte Kriegsopfer. Hinzu kommen rund 64.000 getötete afghanische Polizei- und Militärkräfte, 42.000 tote Oppositionskämpfer und knapp 3.500 tote westliche Soldatinnen und Soldaten. Die Bundeswehr hat am Hindukusch knapp 60 Soldatinnen und Soldaten verloren.

Diese ganzen Zahlen werden der tatsächlichen Bilanz des Krieges aber nicht gerecht. Ich muss bei Fragen zum Afghanistan-Einsatz immer an die Worte der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, denken, die für ihre öffentliche Stellungnahme zur Lage am Hindukusch – „Nichts ist gut in Afghanistan“ – scharfe Kritik einstecken musste. Heute wird umso deutlicher, wie recht sie schon damals hatte.

UZ: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation für die Zivilbevölkerung des Landes?

Michael Schulze von Glaßer: Die Lage ist überall schlecht, wenn auch je nach Region sehr unterschiedlich: Weite Teile des ländlichen Raums werden wieder von den islamistischen Taliban kontrolliert. Einige größere Städte wie Masar-e Scharif und die Hauptstadt Kabul stehen noch unter Kontrolle der Regierung – aber es gibt Anschläge und Menschen, die sich gegen die Taliban stellen, werden bedroht. Dies ist gerade mit Blick auf die rigide westlichen Migrationspolitik dramatisch: Die Menschen haben auch kaum eine Chance zu fliehen. Die westlichen Staaten – und auch alle anderen – schotten sich ab und verwehren den Menschen Hilfen.

UZ: War es vor diesem Hintergrund dann aber nicht falsch, den Abzug der Bundeswehr gefordert zu haben, wie es die Friedensbewegung in den vergangenen Jahren gemacht hat?

Michael Schulze von Glaßer: Die Friedensbewegung hat ja erst einmal gefordert, den Krieg überhaupt nicht zu beginnen, und auch auf die gescheiterte Invasion der Sowjetunion in der 1980er-Jahren verwiesen. Das wäre auch wohl das Beste für alle gewesen. Danach wurde neben dem Abzug des westlichen Militärs vor allem immer für den Ausbau der zivilen Konfliktlösung und Entwicklungshilfe gestritten. Doch auch dem folgten die Regierungen und Parlamente in den zwei Jahrzehnten nicht. Jetzt lauten die Forderungen, die Grenzen für die fluchtsuchenden Menschen zu öffnen und sie bestmöglich zu unterstützen. Doch auch damit tut sich die Bundesregierung schwer. Es ist zum Verzweifeln, mit welchen Betonköpfen man es bei den Verantwortlichen zu tun hat.

UZ: Warum lassen die beteiligten westlichen Staaten die Menschen jetzt so im Stich?

Michael Schulze von Glaßer: Eigentlich ging es bei dem Einsatz ja nie um Afghanistan und die Menschen dort, sondern um die Sicherheitsinteressen der westlichen Staaten. Das Paradigma des deutschen Einsatzes war ja das des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD): „Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Um den Einsatz weiter zu legitimieren, schob man später noch Ziele hinterher wie, die Lebenssituation der Menschen in dem Land zu bessern. Beide Ziele wurden verfehlt: Die Gefahr islamistischen Terrors in den USA und in Europa ist durch den Einsatz massiv gewachsen und die Lage der Afghaninnen und Afghanen hat sich kaum verbessert.

Wie egal den intervenierenden Staaten die Menschen in Afghanistan sind, zeigte sich auch schon beim Kundus-Massaker 2009: Bei der Bombardierung zweier von Aufständischen entführter Tanklaster auf Befehl des deutschen Oberst Georg Klein starben über 100 Menschen, darunter auch Kinder. Klein wurde dafür nie zur Verantwortung gezogen, später sogar befördert und ist heute noch bei der Bundeswehr im Dienst. Recht gab es für die Menschen in Afghanistan von westlicher Seite nie.

UZ: Nach dem Abzug der westlichen Truppen liegt nun alles an der afghanischen Zentralregierung. Halten Sie eine Kooperation mit den Taliban für möglich?

Michael Schulze von Glaßer: Es ist keine Kooperation, aber zumindest Verhandlungen fanden ja bereits real statt: Der Abzug der westlichen Truppen ist die Folge einer Vereinbarung zwischen den Taliban und der US-Regierung. Auch zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban sollen bald wieder Gespräche stattfinden. Eine wirkliche „Kooperation“ mit den Taliban stelle ich mir schwer vor. Eine Koexistenz ist erst einmal wahrscheinlicher und mindert hoffentlich die Zahl ziviler Opfer in dem Land.

UZ: Hätten die Verhandlungen aus Ihrer Sicht schon früher beginnen müssen?

Michael Schulze von Glaßer: Grundsätzlich befindet man sich da in einem Dilemma: Entweder man verhandelt mit den Taliban, wobei man politische Eingeständnisse mit negativen Folgen machen muss, oder man weigert sich zu verhandeln und es gibt ebenfalls negative Folgen. Aus unserer Perspektive vereinen die islamistischen Taliban vieles, was wir bekämpfen: Sie sind gewalttätig, sexistisch, homophob und vieles mehr. Um erst einmal weitere Tote zu vermeiden, sind Gespräche mit diesen Leuten aber unumgänglich. Das schmerzt, ist aber wohl der bessere Weg.

Und wir sehen an einigen Konflikten, dass mit der zuvor dämonisierten Gegenseite irgendwann doch verhandelt wurde – etwa mit der IRA im Nordirlandkonflikt. Leider aber eben oft zu spät, was noch viele vermeidbare Opfer zur Folge hatte. Diesem ganzen Dilemma entgeht man natürlich, wenn man sich erst gar nicht auf ein gewaltsames Kräftemessen einlässt und stattdessen von Anfang an auf zivile und gewaltfreie Möglichkeiten der Konfliktlösung setzt. Das ist, was wir bevorzugen.

UZ: Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan soll am 31. August mit einem sogenannten Großen Zapfenstreich vor dem Reichstag gewürdigt werden. Welchen Grund gibt es, diesen Einsatz zu feiern?

Michael Schulze von Glaßer: Die Bundesregierung wollte den Einsatz am liebsten klammheimlich auslaufen lassen – das fand die Bundeswehr nicht gut, immerhin mussten ihre Soldatinnen und Soldaten ihre Köpfe für den Einsatz hinhalten. Nun gibt es am 31. August zunächst einen Abschlussappell im Bendlerblock in Berlin, um den Einsatz quasi auch formell abzurunden. Am Abend ist dann der Zapfenstreich geplant. Dabei geht es wohl weniger darum, den Einsatz zu „feiern“ – jede und jeder weiß, dass der Einsatz gescheitert ist – als vielmehr darum, die Bundeswehr und die Militärpolitik der Bundesregierung und des Parlaments zusammenzuhalten – daher auch die gewählte Örtlichkeit auf der Wiese vor dem Bundestagsgebäude in Berlin. Der Einsatz ist gescheitert, aber man möchte sich gegenseitig stärken, sich Mut zusprechen und zeigen, dass man dennoch zusammensteht.

UZ: Wird es Proteste der Friedensbewegung gegen den Zapfenstreich geben?

Michael Schulze von Glaßer: Der 31. August ist ein Dienstag, was zumindest für eine größere Mobilisierung eher ungünstig ist. Und die letzten Proteste gegen das traditionelle Gelöbnis vor dem Reichstag in Berlin durften zuletzt nur in einem Kilometer Entfernung durchgeführt werden. Das machte die Proteste zum einen wenig attraktiv, zeigte zum anderen aber auch, wie wenig akzeptiert solche Militärschauspiele sind: Die Bundeswehr verbarrikadiert sich dabei regelmäßig auf der Reichstagswiese und schottet sich vor der Bevölkerung ab. Auch am 31. August werden nur geladene Gäste zugelassen. Wir planen dennoch, dem militärischen Treiben etwas entgegenzusetzen und vor allem auch, den Medien ein Gegenbild zu liefern. Wir werden Konsequenzen aus dem Afghanistaneinsatz fordern: Alle Auslandseinsätze der Bundeswehr beenden! Abrüsten jetzt!

Das Gespräch führte Markus Bernhardt

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"Zapfenstreich am Hindukusch", UZ vom 30. Juli 2021



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