Ein kleiner Mensch, ein kleiner Junge, verletzlich, fast nackt in unsicherer gefährlicher Umgebung, im indischen Dschungel. Dieser kleine Mensch ist physisch dramatisch unterlegen. Er ist nicht so schnell, nicht so stark, nicht so groß wie seine weit besser mit Zähnen und Krallen bewaffnete Umgebung. Er ist ein Gehetzter. Ständig auf Leben und Tod. Und er entrinnt jedes Mal nur mit knapper Not. Dennoch setzt er sich durch. On the long run gewinnt er. Selbst Shir Khan, der Tiger, hat keine Chance. Mowgli, der Frosch, (Neel Sethi) besiegt die Stärksten.
Die 2016er Version des „Dschungelbuchs“ von Jon Favreau besticht durch brillante Technik. Es ist praktisch nicht zu unterscheiden, wo die gefilmte Realität aufhört und wo die Animation anfängt. (Damit ist aber auch der Anspruch des Films, als Beleg für irgendetwas gelten zu können, endgültig Geschichte. Die Manipulationsmöglichkeiten sind unendlich.)
Aber wohin führt diese dem US-Actionfilm entlehnte Brillanz? Es gibt beeindruckende Bilder sprechender Wölfe, riesiger Elefanten, dahinrasender Büffel, grandioser Landschaften. Doch alles bleibt dunkel, unheimlich, bedrohlich; nichts strahlt Wärme aus. Zwar spricht ein superrealistischer schwarzer Panther mit menschlich-verständigen Zügen formatfüllend in die Kamera, allerdings fehlt diesem zwar tierisch realistischen, aber menschlich konturlosen Baghira völlig die lässige, selbstironische Geschmeidigkeit, das distinguiert-britische Understatement. Er bleibt ein Panther (dazu kommt, Joachim Król ist als Synchronsprecher eine komplette Fehlbesetzung. Leider nicht er allein.) Zwar müht sich Balu, der tapsig-tolpatschige Bär, betont deutlich um Lockerheit, doch bleibt sein „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ zitathaft aufgesetzt. In dieser permanenten Hetzjagd auf Leben und Tod ist es allenfalls für Stachelschweine und Gürteltiere locker und gemütlich. Dafür sorgt schon ein brutal-entschlossener Shir Khan, ein schmutzig-mächtiger Tiger mit vernarbtem Gesicht, dessen Vorbilder aus einem Splattermovie von George A. Romero entflohen zu sein scheinen. Shir Khan hat sich geschworen, keine Menschen im Dschungel zuzulassen. Noch ist Mowgli ein Kind. Aber bald wird er erwachsen werden.
Favreau präsentiert ein US-amerikanisches Weltbild, das zunehmend auch das europäische, das deutsche wird: Die Welt ist ein unsicherer Ort. Überall lauern Gefahren, Hinterhalte, Angriffe, Feinde. Das Leben ist ein ständiges Fressen und Gefressenwerden. Überleben ist nur den Starken möglich, jenen, die ihre Feinde besiegen können. Der permanente Kampf wird zur einzig möglichen Existenzform. Es ist das imperialistische Weltbild schlechthin. Die Explosion der Gewalt und Brutalität, das Hohelied auf die Supermänner und Superfrauen auf allen Leinwänden und Kanälen, spricht für sich.
Der britische Autor Rudyard Kipling hatte diese Erzählungen 1894 (das erste Dschungelbuch) und 1895 (das zweite Dschungelbuch) veröffentlicht. Seit 1877 trug Queen Victoria den Titel „Empress of India“, der britische Imperialismus stand in seinem Zenit. Kipling darf, ohne ihm zu nahe zu treten, als einer seiner bedeutendsten Propagandisten betrachtet werden. Konsequenterweise bekam er 1907 als erster Brite den Literaturnobelpreis. Seinen Kultur- und Zivilisationsimperialismus hat er in seinem Gedicht „The White Man’s Burden“ (1899) in klassische Form gebracht.
„… Ergreift des weißen Mannes Bürde
und erntet seinen typischen Lohn:
den Tadel derer, die ihr bessert,
den Hass derer, die ihr beschützt
den Schrei der vielen, die ihr lockt
(ah, langsam!) hin zum Licht:
„Warum habt ihr uns aus der
Knechtschaft befreit,
aus unserer geliebten ägyptischen
Finsternis? …“
Die Bürde eines großartigen globalen Zivilisationsprogramms, welches, damals noch ungehemmt rassistisch, „der Weiße Mann“, heute, PR-geglättet, die „westliche Wertegemeinschaft“, ohne Not auf sich nimmt, erntet als „typischen Lohn“ den „Schrei“, den „Tadel“ und den „Hass“ derer, die, statt „zum Lichte“ westlicher Kultur, zurück in ihre „geliebte ägyptische Finsternis“ streben. Die jahrhundertealte Aktualität von Kiplings imperialem Rassismus macht deutlich, wie sich ganze Generationen herzhafter Imperialisten im Geiste Kiplings als die verkannten, armen Schweine der Weltgeschichte begriffen haben dürften. Der Opfermythos ist ein kriegswichtiges Gut, welches in Divisionen gewogen wird, wusste schon Goebbels.
So ist auch die Fabel des Kindes im indischen Dschungel, welches von, natürlich, Wölfen gerettet und groß gezogen wird, alles andere als eine unbefangen-lustige Kindergeschichte. Kiplings „Dschungelbuch“ strotzt nur so von verkniffen-staubtrockener viktorianischer Pädagogik, inklusive Prügelstrafe. Sein Dschungel (des Lebens) ist alles andere als ein naturwüchsiger Ort. Er ist in seiner ausgefeilten Gesetzlichkeit ein Abbild britischen Legalismus, um dessen Beachtung es primär in der Geschichte geht. Es ist „das Gesetz des Dschungels“, welches Mowgli von den Wölfen(der kolonialen Funktionselite), von Bagheera und vor allem Baloo (Kiplings Schreibweise) und von der im Buch auf der Seite der Guten positionierten Felsenpython Kaa beständig eingebläut. Mowglis Überlebensfähigkeit, sein Entwicklungsstand bemisst sich danach, inwieweit er „die Meisterworte“ welche er – klassisch – beständig auswendig lernen und aufsagen muss, verstanden und verinnerlicht hat.
Zwar steht in dieser Welt des Fressens und Gefressenwerdens der Tiger an der Spitze der Nahrungskette. Shir Khan ist für alle eine potentielle Existenzbedrohung. Allerdings eine akzeptierte. Es ist die Natur des Tigers, ein Killer zu sein. Worum es geht, ist, den Killer zu killen. Was Mowgli im Buch auch mit Hilfe der Büffel gelingt.
Kiplings ganze Verachtung hingegen gilt den Affen, den Bandar-log, die sich einen Dreck um irgendwelche Gesetze scheren. Er wendet eine Menge Tinte auf, um die chronische Unfähigkeit des anarchischen Affenstaates zu beschreiben irgendetwas wie eine ziel- und zweckgerichtete Handlung umzusetzen. Hedonistische Affen, die sich dem Regime von Befehl und (Kadaver-)Gehorsam notorisch verweigern, erscheinen der viktorianischen Disziplin- und Prüderie-Gesellschaft so ziemlich als die Ausgeburt der Hölle.
Der Stoff ist einige Male verfilmt worden. Die bekannteste Version dürfte der 1967er Disney-Film von Wolfgang Reitherman sein. Kurz zuvor war eine sowjetische Variante von Roman Dawydow erschienen. Sie gilt bis heute als die authentischste Verfilmung. Aber im Kalten Krieg ging es natürlich nicht um Authentizität, sondern darum, die Russen propagandistisch an Lockerheit und Easy Living auszustechen. Daher verwandelten Disney/Reitherman die ganze viktorianische Verbissenheit in ihr komplettes Gegenteil. Swinging London. Eine jazzlastige Uup-huupie-doo-Lockerheit, weit entfernt von jedem pädagogischen Rohrstock. Shir Khan blieb zwar latent gefährlich, bekam aber die elegant-snobistischen Züge eines blasierten britischen Adligen. Wenn man mordet, dann mit Stil. Und natürlich konnte hier die Affenbande keine wirklichen Negativfiguren mehr sein. Als Sprecher für King Louie soll Louis Armstrong im Gespräch gewesen sein. Auch der deutsche Synchronsprecher Klaus Havenstein entwickelte erstaunliche Jazz-Fähigkeiten, die aus dem bananenschießenden King Louie einen ziemlich coolen Typ machten. Als Ausgleich gewissermaßen musste die Python die Seite wechseln. Aus dem Retter, der Mowgli aus dem Gefängnis der Affen befreit, wurde nun „die Schlange Kaa“, die durch ihre hypnotischen Fähigkeiten besticht und in ihrem Scheitern vor allem unfreiwillig komisch wirkt. Ebenso komisch ist nun auch Hathi, der vom wilden Elefanten zum very british skurrilen Oberst einer „Dschungelpatrouille“ mutierte. Das Happy End inklusive kalkuliert-bezaubernder Dorfschönheit jedenfalls steht während des ganzen Films völlig außer Frage.
Ganz anders nun 2016. Die kulturelle Umwälzung der letzten 50 Jahre, die mit Jon Favreaus düsterer Neubearbeitung aufscheint, könnte kaum krasser sein – weg von einem korporativen Kapitalismus, der sich angesichts der Systemherausforderung um den Anschein der Menschlichkeit und Zivilisiertheit bemüht, hin zum offen propagierten, kriegerisch-neoliberalen Sozialdarwinismus, der Humanismus als Gutmenschentum verachtet. Es ist ein Backlash zurück zu Kipling und in seiner Brutalität und Bildmächtigkeit deutlich darüber hinaus. Nicht nur der Opfer-, auch der Heldenmythos wird in Divisionen aufgewogen: Freigabe ab 6 Jahre (!). Mowgli ist von einem verletzlichen Kind zu einem Actionhelden mit übermenschlichen Fähigkeiten, einer Art Dschungel-Supermann mutiert. Ein harter Typ, der trotz ständiger Flucht und Lebensgefahr niemals aus der Fassung gerät oder gar verzweifelt, sondern immer für alles und jedes eine Lösung weiß. Er hat die klassischen „Tugenden“ imperialer Eroberer, besser ihres Fußvolks: „Rank und schlank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“, und er fällt natürlich nicht, wie vor 50 Jahren, auf irgendeine Tussi herein. Die postsozialistische, neoliberal-bellizistische Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts erlaubt kein Innehalten, keine Reflexion, keinen Zweifel, sie fordert die bedingungslose Selbstunterwerfung unter ihre Imperative. Sie fordert,„The White Man’s Burden“, den Kampf in Permanenz, „… zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“. Favreau gebührt das Verdienst, uns das noch einmal in aller Deutlichkeit vorgeführt zu haben. Die Begeisterung allerdings hält sich in Grenzen.