Landgericht Dortmund, Saal 130. Staatsanwalt Matuschek spricht mit Kommissarin Ira Klasnić. Im Hintergrund hängt ein Fernseher über der Richterbank. Er ist eingeschaltet, auf ihm können den Prozessbeteiligten Fotos, Videos und Dokumente gezeigt werden.
Die Szene entstammt dem Dortmunder Tatort „Cash“, ausgestrahlt am 18. Februar. Sie ist realistisch: An vielen Gerichten in Deutschland ist es längst Usus, Prozessakten mittels technischer Mittel allen im Saal Anwesenden zugänglich zu machen.
Transparenz unerwünscht
In just diesem Saal 130 des Dortmunder Landgerichts findet seit dem 19. Dezember 2023 die Hauptverhandlung gegen fünf der Polizisten statt, die an dem tödlichen Einsatz gegen den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 beteiligt waren. Tatsächlich hängt ein Fernseher im Saal. Doch der bleibt auch am fünften Verhandlungstag, dem 21. Februar, aus. Einen am vierten Prozesstag gestellten Antrag der Rechtsanwältin Lisa Grüter und des Polizeiwissenschaftlers Thomas Feltes, Fotos, Videos und ein 3D-Modell des Tatorts allen Anwesenden zu zeigen, ignoriert das Gericht bislang. Grüter und Feltes vertreten die Nebenklage, die Familie des erschossenen Jugendlichen. Sie kämpfen für ein transparentes Verfahren. Das Interesse der Medien, der Öffentlichkeit an dem Prozess ist groß – zum ersten Mal in der Geschichte der BRD müssen sich Polizisten wegen Totschlags vor Gericht verantworten. Das die 39. Strafkammer des Landgerichts unter Vorsitz von Richter Thomas Kelm und die Staatsanwaltschaft Dortmund ganz und gar nicht an Transparenz und Öffentlichkeit interessiert sind, zeigt sich immer deutlicher.
Der fünfte Verhandlungstag beginnt mit Kritik von Oberstaatsanwalt Carsten Dombert. Wieder geht es mit 30-minütiger Verspätung los. Das liegt an der umfangreichen Durchsuchung, die Besucher über sich ergehen lassen müssen. Dombert fordert, dass die zukünftig eine halbe Stunde vor offiziellem Verhandlungsbeginn starten.
Dann äußert sich Richter Kelm zu dem Antrag der Nebenklagevertreter, das vom nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt (LKA) erarbeitete 3D-Modell des Tatorts in den Prozess einzubringen. In diesem Modell sind die Standorte der Zeugen festgehalten, so lassen sich ihre Sichtfenster während des Tathergangs graphisch darstellen. Wer wo stand, müsse erst die Kammer feststellen, sagt Kelm. Das sorgt für Unverständnis und Kopfschütteln unter Prozessbeobachtern. Das 3D-Modell ist schließlich Beweismaterial und hilft ja gerade dabei, zu verstehen, wer wo stand und was beobachtet haben kann – und was nicht.
Vier Sozialarbeiter im Zeugenstand
Vier Zeugenvernehmungen stehen heute auf dem Programm. Der erste Zeuge ist Alexander G., der Leiter der Jugendhilfeeinrichtung, in der Mouhamed Dramé untergebracht war. Er war schon am dritten Verhandlungstag vernommen worden, muss aber noch einmal im Zeugenstand Platz nehmen, weil Richter Kelm damals ein Foto nicht fand. Die Staatsanwaltschaft fragt G., ob er Personen auf der Anklagebank dem Tatverlauf zuordnen könne. G. lässt seinen Blick über die Angeklagten schweifen, dann sagt er: „Nee, kann ich nicht.“ Das sei schwierig, schließlich hätten sie Uniform getragen, und die Tat sei lange her.
Als Thomas Feltes auf das 3D-Modell des LKA verweist, reagiert Richter Kelm rüde und kanzelt den Professor von oben herab mit Belehrungen ab. Feltes pocht auf eine Entscheidung des Richters. Kelm besteht darauf, dass erst die Kammer feststellen müsse, wo welcher Zeuge gestanden habe. Eventuell zeige man dann das Modell, wenn nötig. „Dann müssen die Zeugen ja nochmal geladen werden?“, fragt Feltes. „Dann machen wir das“, ist die lapidare Antwort des Vorsitzenden Richters. Er unterbricht Feltes so rüde, dass der sich das verbittet.
Auch der zweite Zeuge an diesem Tag war schon einmal da. Es ist Herr P., Sozialarbeiter, ein ehemaliger Kollege von G. Er hatte den tödlichen Einsatz aus nächster Nähe mitbekommen. Seine Vernehmung brach Kelm beim letzten Mal ab, nachdem er P. dermaßen unter Druck gesetzt hatte, dass der in Tränen ausbrach. Heute kommt P. in Begleitung einer Sozialarbeiterin. Er wirkt gefasster und bejaht die Frage Domberts, ob er heute in der Lage sei, Fragen zu beantworten. Ob er Angeklagte wiedererkenne, will der Oberstaatsanwalt wissen. P. deutet auf Thorsten H. und benennt ihn als Einsatzleiter. Auf viele Fragen antwortet P., er könne sich nicht erinnern. Thomas Feltes will ihm eine Vorlage zeigen. Kelm lehnt ab. Feltes besteht auf einem Kammerbeschluss. Als die Richter und Schöffen kurz darauf wieder in den Saal treten, bestätgt Kelm seine Anordung.
Herr P. wird von allen Seiten ausführlich befragt. Seine Aussagen könnten entscheidend sein. Bis zum Pfeffersprayeinsatz der Polizei gegen Mouhamed habe er keine Aggressivität seitens des Opfers wahrgenommen. Erst danach sei Mouhameds Passivität umgeschlagen. P. Ist der einzige der vier Zeugen, der aussagt, Mouhamed habe sich dann langsam, nicht schnell, in Richtung der Polizisten bewegt und dabei desorientiert gewirkt. P. sagt, hätten die Polizisten das mit Eisenspitzen versehene Tor zum Innenhof geschlossen, hätte Mouhamed den nicht verlassen können. Der Sozialarbeiter ist sich sicher, dass die Polizeibeamten vor Ort gar nicht erst in Erwägung zogen, Psychologen, Mobile oder Sondereinsatzkommandos hinzuzuziehen.
Widersprüchliche Aussagen
Christoph Krekeler, der Verteidiger des mutmaßlichen Todesschützen Fabian S., stellt ihm fünf Fragen alleine zu den Deutschkenntnissen von Mouhamed Dramé. P. ist sich sicher: Die Aufforderung „Auf den Boden! Messer weg!“ konnte der Geflüchtete aus Senegal nicht verstehen. Strafverteidiger Lars Brögeler gibt schließlich eine Prozesserklärung ab. Die Vernehmung der Zeugen G. und P. zeige, dass der Zeugenbeweis „der mit Abstand unsicherste Beweis in Strafprozessen“ sei. P. habe gesagt, Mouhamed Dramé habe sich langsam und ziellos bewegt, laut G. hingegen sei der Jugendliche „sehr schnell“ gewesen. Aus beiden Aussagen ließen sich keine validen Rückschlüsse über das Tempo Dramés ziehen.
Die Stimmung auf der Anklagebank wirkt danach gelöst.
Richter Kelm ruft den dritten Zeugen herein. Herr W. ist Mitte 40, auch er Sozialarbeiter und ein Kollege von G. und P. Er bestätigt, dass Mouhamed Dramé kein Wort Deutsch sprach, und schildert die psychischen Probleme des Jugendlichen. Mouhamed habe gesagt, er wolle nicht in Deutschland bleiben, sondern zurück nach Hause zu seiner Familie. W. sagt aus, der Junge habe sich nach dem Reizgaseinsatz schnell auf den Polizisten mit der Maschinenpistole zu bewegt. Auf Nachfrage von Thomas Feltes räumt er ein, Mouhameds Bewegung nicht gesehen zu haben, es handele sich um eine Vermutung.
Die vierte und letzte Zeugin an diesem Verhandlungstag arbeitet ebenfalls in der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Sie heißt Frau A. und ist mit einem vereidigten Dolmetscher gekommen, weil sie besser Englisch als Deutsch spricht. Sie kommt ohne dessen Hilfe zurecht. Mouhamed Dramé kennt sie länger als ihre Kollegen, weil sie seit dessen Ankunft in der Einrichtung für ihn zuständig war. Eine gute Woche verbrachte der Jugendliche dort, bevor ihn die Polizei erschoss. Frau A. wirkt resolut und gefasst, obwohl sie die Tat sehr mitgenommen zu haben scheint. Sie erzählt, dass sie Mouhamed am Tag seiner Ermordung ein kleines Küchenmesser weggenommen hatte. Das war, bevor sich der Jugendliche später ein großes beidhändig an den Bauch hielt. In dieser späteren Situation sei sie zusammen mit P. und W. zu Mouhamed gegangen und habe versucht, mit ihm zu sprechen. Tatsächlich habe der sich kurz bewegt. Staatsanwältin Gülkiz Yazir fragt sie, ob sie denke, der Versuch der Kontaktaufnahme der Polizei hätte gelingen können, wenn die Beamten es länger probiert hätten? „Ich bin Sozialarbeiterin“, antwortet A. leicht entrüstet, und: „Ja.“ Mouhamed sei schließlich schon etwas lockerer gewesen nach dem Versuch von W. via Smartphone und Google Translate.
Den Einsatzleiter Thorsten H. nennt die Zeugin den „alten Mann ohne Haare in Uniform“. Das sorgt für Heiterkeit im Gericht. Den Rest des Tages bleibt der Einsatzleiter der „Mann ohne Haare“. Unmittelbar vor den Schüssen, sagt Frau A., habe der Glatzkopf „Mach das nicht, stopp!“ geschrien. Diese Information ist den Prozessbeteiligten neu. Im Vernehmungsprotokoll der Polizei Recklinghausen lese sich das so, als habe der Einsatzleiter das erst gesagt, als Mouhamed schon am Boden lag, sagt Rechtsanwältin Lisa Grüter. Das könne nicht sein, sagt A., da sei sei ja schon panisch vor den Schüssen ins Haus geflohen. Richter Kelm bittet sie zu sich nach vorne und zeigt ihr das Protokoll: „Ist das Ihre Unterschrift?“ Frau A. bejaht. Oberstaatsanwalt Dombert fragt, ob ein Dolmetscher dabei gewesen sei bei ihrer Vernehmung. „Nein.“ Sie bestätigt Dombert, dass sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung gesagt habe, dass Thorsten H. vor der Schussabgabe „Mach das nicht, stopp!“ gerufen habe. „Wenn das nicht im Protokoll steht, hat die Polizei das falsch gemacht.“ Dann stellt sich heraus, dass ihr das Vernehmungsprotokoll vorgelesen wurde, obwohl sie angekreuzt haben muss, sie hätte es gelesen. Dabei habe sie nicht bemerkt, dass etwas fehle. Das verwundert kaum: Vier bis fünf Stunden habe ihre Vernehmung gedauert.
Ein Verteidiger tickt aus
Und dann will Thomas Feltes noch von ihr wissen, wo Zeuge P. stand und wo sie. Frau A. zeigt ihm das mit ihren beiden Handtaschen auf dem Tisch vor ihr. Verteidiger Brögeler dreht sich zu seinem Kollegen Jan-Henrik Heinz und grinst hönisch.
Diese Missachtung der Opfer hatte Brögeler schon morgens gezeigt, als er kurz vor der Eröffnung der Verhandlung Thomas Feltes die Hand schüttelte, aber Mouhameds Brüder Sidy und Lassana Dramé überging. Respektlos auch sein Verhalten gegenüber der Presse: Tuschelnde Journalisten herrschte er an, die Beweisaufnahme laufe noch. Als Reporter nach Beendigung der Verhandlung mit Nebenklagevertreterin Lisa Grüter sprechen, schreit Brögeler cholerisch: „Wir wollen hier Termine absprechen!“ Anwältin Grüter ist konsterniert, das hatte ihr nämlich niemand gesagt. „Wie im Tollhaus“, brüllt Brögeler noch.
Die Respektlosigkeit, die das Gericht, die Verteidiger und Angeklagten gegenüber dem Opfer, dessen Familie, den Nebenklagevertretern und Prozessbeobachtern an den Tag legen, ist unübersehbar. Die Hoffnung vieler, dass die Angeklagten für ihren völlig unverhältnismäßigen und tödlichen Einsatz zur Rechenschaft gezogen werden, schwindet. Hier soll nicht aufgeklärt werden, hier soll Aufklärung verhindert werden, ist der Eindruck nach dem fünften Prozesstag. Vor dem Haupteingang des Landgerichts unterhalten sich die Strafverteidiger noch mit den Staatsanwälten Dombert und Yazir. Die Nebenklagevertreter sind nicht eingeladen.
Die Farce zieht sich in die Länge: Mittlerweile sind Verhandlungstermine bis Mitte September angesetzt.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.