Türkei: Strategie der Spannung verschafft Erdogan den Wahlsieg

Wunschtraum von Stabilität

Von Olaf Matthes

Nach den Wahlen in der Türkei meldete die FAZ das Wichtigste: Erdogans Wahlsieg habe die Börse in Istanbul „beflügelt“. Die Kurse stiegen. Die maßgeblichen Kapitalgruppen rechnen damit, dass die „Stabilität“, die die absolute Mehrheit der AKP laut Erdogan bringen werde, für sie noch die besten Aussichten auf steigende Profite bietet.

Natürlich stiegen nicht alle Aktien – an Wert verlor zum Beispiel die Koza-Ipek-Holding. Diese Gruppe betreibt Fernsehsender und Tageszeitungen, die der stark im türkischen Staatsapparat verankerten, islamischen Gülen-Bewegung nahestehen, und das war offenbar der Grund dafür, dass die Regierung das Unternehmen und seine Chefs mit Prozessen überzog und Büros durchsuchen ließ. Kurz vor der Wahl stellte die Regierung das Unternehmen unter Zwangsverwaltung, als die Polizei am 28. Oktober den Sitz des Unternehmens stürmte, setzte sie auch Wasserwerfer und Tränengas ein.

Aber im Wesentlichen gehen die Dinge in der Türkei den geordneten Gang der bürgerlichen Demokratie: Die Konrad-Adenauer-Stiftung kam zu dem Schluss, dass es keine Wahlmanipulationen gegeben habe. Zumindest lässt sich der Wahlsieg der AKP nicht durch direkte Fälschungen des Ergebnisses erklären. Die AKP kann zur Zeit noch am besten garantieren, dass das große Spiel der Unternehmer um Märkte und um politischen Einfluss nach den üblichen Spielregeln abläuft, und deshalb konnte Erdogan am Wahlabend erklären, dass das Ergebnis „den nationalen Wunsch nach Stabilität“ ausdrücke. Zum Beispiel hatte Erdogan die türkische Syrienpolitik zwar in die Sackgasse der mehr oder weniger offenen Unterstützung des IS geführt – aber erst in den letzten Wochen konnte er sich als Staatsmann präsentieren, der als Gegenleistung für ein Vorgehen gegen Flüchtlinge unter anderem Milliardenzahlungen der EU ausgehandelt hat. Bundeskanzlerin Merkel hatte Mitte Oktober die Türkei besucht, Erdogan damit aufgewertet und insofern im Wahlkampf unterstützt – und betont, dass es schließlich auch ein „deutsches Interesse“ an einer „stabilen Türkei“ gebe.

Aber der Weg zu Erdogans Stabilität führt durch das Chaos, das die AKP in den letzten Monaten inszeniert hat, um sich als Retter der Nation präsentieren zu können – denn der Rückhalt der AKP hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Das Massaker an den Demonstranten in Ankara haben die Sicherheitskräfte nicht verhindert, obwohl die Attentäter unter Beobachtung standen. Den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung hat die Regierung weiter angeheizt, obwohl die PKK eine Waffenruhe ausgerufen hatte, und die AKP hat die Stimmung erzeugt, in der faschistische und islamistische Gruppen HDP-Büros angreifen konnten.

Erdogans Variante der Strategie der Spannung ist für den Moment aufgegangen: Das türkische Wahlrecht sichert der AKP für 49,5 Prozent der Stimmen fast 58 Prozent der Abgeordnetensitze. Damit ist sie nicht weit entfernt von den für ihre angestrebte Verfassungsänderung nötigen zwei Dritteln.

Bei den Wahlen vom vergangenen Sonntag verlor unter anderem die faschistische MHP – ein Teil ihrer Wähler hatte sich offenbar überzeugen lassen, dass eine rassistische und antikurdische Politik auch mit der AKP zu machen ist. Die HDP, in der die kurdische Bewegung mit linken türkischen Gruppen zusammenarbeitet, verlor im Vergleich zum Juni rund 2,3 Prozentpunkte und rund 900 000 Stimmen – anscheinend gerade auch unter konservativeren und bessergestellten kurdischen Wählern. Die Kommunistische Partei (Komünist Parti, KP), die sich nicht an der HDP beteiligt, kandidierte selbst. Sie erhielt 0,11 Prozent der Stimmen – mit knapp 54 000 Stimmen aber etwa viermal so viele wie bei den Wahlen im Juni.

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"Wunschtraum von Stabilität", UZ vom 6. November 2015



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