Carolus Wimmer, Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), besuchte in der vergangenen Woche das Haus der DKP in Essen. Im Gespräch mit UZ berichtet er über das Leben unter den Angriffen der USA und die Perspektive der bolivarischen Bewegung.
UZ: Die deutschen Mainstream-Medien stellen es
so dar, als würden die Menschen in Venezuela hungern und Maduro hassen.
Ist das die Wirklichkeit?
Carolus Wimmer:
Die Stimmung der Bevölkerung ist äußerst kritisch mit der Regierung. Es
gibt Unzufriedenheit im positiven Sinn. Generell könnte man sagen: Die
Mehrheit will die ideelle Fortsetzung der Politik von Chávez. Das
bedeutet schon einen revolutionären Weg.
UZ:
Heißt das, die Menschen sehen einen Weg, für den es sich zu kämpfen
lohnt, oder heißt das, die Menschen sind einfach verzweifelt darüber,
dass die Löhne so niedrig sind und dass die Preise steigen?
Carolus Wimmer:
Wenn diese Verzweiflung da wäre, wäre Guaidó Präsident. Im Moment ist
es keine Verzweiflung, sondern eine harte, harte Unzufriedenheit. Die
Bevölkerung ist gegen die USA und für die Politik von Chávez. Die sind
sie bereit zu verteidigen. Was er geschaffen hat in den Streitkräften,
in der lateinamerikanischen Einheit, das wird verteidigt. Dass Frauen
jetzt anerkannt werden und viel mehr Spielraum haben als früher. Dass
die indigenen Völker jetzt das Recht haben, mit ihrer Kultur im
Parlament zu sein. Oder das Recht auf Studieren, früher gab es keine
Möglichkeit, Kinder aus ärmeren Familien an die Uni zu schicken. All
diese Errungenschaften werden verteidigt.
UZ:
Aber gleichzeitig ist es doch so, dass durch die Inflation und auch die
Korruption viele soziale Errungenschaften zurückgenommen werden, die
unter Chávez erreicht wurden?
Carolus Wimmer:
Sie sind in Gefahr, das ist richtig. Aber obwohl wir eine
reformistische, sozialdemokratische Regierung haben, gibt es
Anstrengungen, das zu lindern. Diese Anstrengungen gibt es in Kolumbien
oder Argentinien nicht. Dort verzweifeln die Leute tatsächlich. Tausende
Menschen leben dort auf der Straße. Das sind Beispiele, an denen den
Venezolanern klar wird, was ihnen bevorsteht bei einem Regime-Change.
Darum diese Kombination von Kritik, Unzufriedenheit, manchmal auch Wut,
speziell auch gegen die Korruption, und Unterstützung für die Regierung.
UZ: Und die Streitkräfte stehen hinter der Regierung?
Carolus Wimmer:
Die venezolanischen Streitkräfte haben ihren Ursprung vor 200 Jahren
als Volksarmee, die erst erfolgreich gegen den Kolonialismus gekämpft
und dann fünf andere Länder befreit hat. Nicht besetzt hat, sondern
befreit hat. In Bolivien wird das zum Beispiel anerkannt, nicht umsonst
heißt das Land nach Simón Bolívar. Im letzten Jahrhundert, vor Chávez,
gab es immer wieder Rebellionen der Streitkräfte gegen besonders
repressive bürgerliche Regierungen.
Chávez – der ja aus den
Streitkräften kommt – war ein Ausdruck der total fehlgeschlagenen
Politik der bürgerlichen Parteien. Wenn die in Venezuela einigermaßen
gute Politik gemacht hätten, würde heute niemand Chávez kennen. Damals
gab es keine Lebensmittelpakete, keine kostenlose Gesundheitsversorgung,
es gab nur Armut.
UZ: Jetzt betont Guaidó,
dass eine Reihe von Militärs zu ihm übergelaufen seien. Ist die Armee
handlungsfähig oder ist sie gespalten?
Carolus Wimmer:
116 Soldaten und ein paar Unteroffiziere sind übergelaufen. Wie viele
Menschen desertieren überall auf der Welt? Das ist eine lächerliche
Zahl. 116 von 240 000. Guaidó wird kein Wort sagen, das ihm nicht von
US-Funktionären diktiert worden ist. Guaidó ist nicht nennenswert.
UZ: Aber trotzdem ist er ja ein Werkzeug der USA.
Carolus Wimmer:
Jetzt schon nicht mehr. Er hat seine Aufgabe nicht erfüllt. Für einige
war Guaidó tatsächlich so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Aber er hat
nichts angeboten, außer sich selbst zum Präsidenten zu erklären. Guaidó
hatte angekündigt, dass er mit 500 000 Menschen ankommt, dass er nicht
zu bremsen sein wird. Aber am Ende kamen nur 50.
UZ:
Die USA haben auch militärische Vorbereitungen für einen Krieg gegen
Venezuela getroffen. Gibt es noch Möglichkeiten, diesen Krieg zu
vermeiden?
Carolus Wimmer: Ich glaube, das
ist keine Frage, die man einfach beantworten kann. Man muss den Krieg
verhindern. Da sind dann auch viele Wähler der Opposition dabei, denn
sie sind sich mehr und mehr darüber im Klaren, dass wir alle bombardiert
werden, wenn Caracas bombardiert wird.
In der Opposition hat sich
die Tendenz durchgesetzt, dass faschistische Gruppen mit großer
Brutalität gegen ihre eigenen Leute vorgehen – zum Beispiel der
„Volkswille“, die Partei Guaidós. Deshalb gibt es kein Foto aus der
letzten Zeit, auf dem wichtige Politiker der Opposition Guaidó
begleiten. Die USA haben aus unserer Sicht überhaupt kein Interesse mehr
daran, dass eine Opposition aufgebaut wird. Sie haben kein Interesse
mehr daran, ob nun Guaidó Präsident wird oder nicht. Der hat was
versprochen, zum Beispiel einem Großteil der Streitkräfte. Und konnte
das nicht halten. Sie haben die Lage in Venezuela falsch eingeschätzt.
UZ: Ist ihnen jetzt mit den Angriffen auf das Stromnetz das Gleiche passiert?
Carolus Wimmer: Klar. Das war der letzte Schlag. Der Putsch war geplant für den 10. Januar, den Tag der Ernennung Maduros zum Präsidenten. Sie haben gesagt, wir lassen das nicht zu, und dann wurde er doch vereidigt. Dann wurde es geplant für den 23. Januar, dann wurde es geplant für den 4. Februar, dann wurde es geplant für den 23. Februar und jetzt wurde es eben nach dem Karneval mit dem Stromausfall versucht. Das einzige Land, das in der Lage ist, ein anderes Land so lahmzulegen, sind die USA. Wir unterschätzen das oft, auch die Regierung und Maduro unterschätzten das, wie militärisch überlegen sie sind. Das sollte ein totaler Schlag sein und in einem anderen Land wäre es auch erfolgreich gewesen. Aber nicht in Venezuela. Die Leute sind kilometerweit gegangen, da keine U-Bahn fuhr, und dann sind sie bei der Arbeit angekommen und da gab es kein Licht. Du konntest nicht einkaufen, nichts. Aber es gab keine Revolte gegen Maduro. Das hatten sie geplant, dass sich die normale Bevölkerung auflehnt.
UZ: Aber trotzdem stellt ihr euch darauf ein, dass es neue Angriffe der USA gibt.
Carolus Wimmer: Was wir erleben, ist Klassenkampf. Sichtbarer Klassenkampf, in dem es auch revolutionäre Möglichkeiten gibt, objektive und subjektive. Vielleicht nur wenige, aber sie sind da. In welchem Land hast du einen feste Gruppe der Bevölkerung von fünf Millionen Menschen, die antiimperialistisch sind? Nicht revolutionär, nicht kommunistisch, aber antiimperialistisch.
UZ: Alle Medien und alle politischen Kräfte sagen im Moment: In Venezuela ist alles furchtbar. Und jetzt kommen die Kommunisten und sagen: Da gibt es Chancen, da gibt es Grund für Optimismus. Gibt es dafür wirklich eine Grundlage?
Carolus Wimmer: Sicherlich. Wenn die bürgerlichen Medien recht hätten, wäre Guaidó an der Macht und Maduro wäre im Knast oder in Guantánamo, wie Pompeo es will, oder mit viel Glück in Kuba. Die Realität ist, dass die USA die bolivarische Bewegung seit 20 Jahren unter Kontrolle bringen wollen, aber es gelingt ihnen nicht. Die Bevölkerung sieht, wie die USA gegen Venezuela vorgehen. Und sie weiß: Es ist nicht so, dass es jetzt plötzlich nichts mehr zu kaufen gibt. In den 80ern gab es für den Großteil der Venezolaner gar nichts. Mit Chávez wurde für die Bevölkerung alles besser.
UZ: Das heißt, dieses antiimperialistische Bewusstsein und die Bewegung des Chávismus sind heute immer noch stark genug, um Widerstand gegen die USA zu leisten?
Carolus Wimmer: Sonst wären die USA schon drin. Ich bin da ganz pragmatisch. Man darf keine Illusionen haben.
Erschienen in der UZ vom 29. März 2019