Erich Hackl „Am Seil“, Diogenes Verlag 2018, geb., 117 Seiten, 20 Euro
Es lohnt sich, auf den Schriftsteller Erich Hackl immer wieder aufmerksam zu machen. In der UZ vom 13. Juli 2018 war eine ausführliche Würdigung zu lesen, die die gesamte schriftstellerische Arbeit dieses österreichischen Autoren vorstellte. Diesmal ist es ein Vergnügen, den neuen, schmalen Band „Am Seil“ mit der knappen Unterzeile „Eine Heldengeschichte“ zu loben. Es sind gerade mal 110 Seiten zu lesen, erzählt wird über zwei zeitliche Ebenen die Geschichte eines Kindes, eines jungen Frau, die sich erinnert, wie es in Wien in faschistischer Zeit und danach war. Erzählt wird, wer ihr und ihrer Mutter half, sich vor der Deportation in die Vernichtungslager zu retten, weil die beiden jahrelang versteckt wurden. Dieser „Held“, ein Reinhold Druschka, schlägt sich schon seit Mitte der 1930er Jahre als Kunstgewerbler durch, hat eine kleine Werkstatt und muss immer mühseliger Material beschaffen, um überhaupt arbeiten zu können. Auch muss er sich vor drohender Einberufung schützen, kleine „Heldengeschichten“ am Rande, wie ein Arzt ihm Atteste ausstellt, aber auch, was dieser an kleinen Geschenken erwartet.
Reinhold Druschka ist überhaupt kein Held, auch trägt ihn nicht eine Haltung, weder eine christliche, eine bürgerlich-liberale, eine sozialistische. Er versteckt die beiden Jüdinnen, weil er nicht anders kann, wir erfahren, dank Erich Hackls Herangehensweise, nichts über mögliche Beweggründe. Und genau darin liegt die außerordentliche Leistung, liegen die handwerklichen Fähigkeiten dieses Schriftstellers: Was er nicht weiß, was seine Recherchen und Gespräche mit den noch Lebenden dieser Geschichte nicht hergeben, dass erzählt, fabuliert, orakelt er nicht. Diese Achtung vor den Fakten, vor den Realitäten verhilft ihm und damit auch uns dazu, die Leerstellen nicht mit überflüssigem Beiwerk, mit schön ausgemalten Arabesken, mit wohlklingenden Adjektiven aufzufüllen. Sicherlich könnte Erich Hackl dank seines schriftstellerischen Könnens eine solche Geschichte auf 400, ja 500 Seiten aufblasen („dicke Bücher verkaufen sich besser, da kriegt man wenigstens was fürs Geld“), nein, Hackl verknappt und verdichtet. Ein gelungenes Beispiel ist die Szene, die das junge Mädchen Lucia erzählt als mittlerweile alte Frau: „Wir hatten beim Einmarsch die Deutsche Wehrmacht marschieren gesehen: Gezirkelte Bewegungen, stramm, straff. Das Knallen der Stiefel auf dem Pflaster. Die Russen dagegen sind nicht marschiert, sondern gegangen. Geschlendert! Das hat mich am meisten beeindruckt. Sie hatten weiche Filzstiefel an und trugen statt Stahlhelmen Pelzmützen. Bei ihrem Anblick traten Lucia Tränen in die Augen. Die Angst, sagt sie, war mit einem Schlag weg. Das geschah an einem verhangenen Apriltag des Jahres 1945, glaubhaft zwischen zwei und halb drei Uhr nachmittags. Keiner von ihnen wollte ihn je vergessen.“
Daraus kann man eine Riesenszene machen, manch einer schreibt darüber locker 2 bis 3 Druckseiten voll, aber Hackl ist konsequent, denn mehr hat Lucia nicht erzählt, warum sollte er sich jetzt darüber hermachen und ein gefälliges, großes Bild komponieren. Er ist kein Jean Paul und auch kein Thomas Mann, um zwei zu nennen, die das konnten, aber dann auch nur in ironischer Brechung. Unter denen, die den heutigen Buchmarkt mit ihren „dicken Büchern“ vollstopfen, sind die in der Mehrzahl, die dünne Plots und magere Stories mit endlosen Naturschilderungen, seelischen Befindlichkeiten, die der allwissende Autor über seine Figuren zu erfinden weiß, mit unwichtigen Nebensträngen und jeder Menge nicht ausgearbeitetem Personal zu dem „Werk“ vollenden, das die Verlagswerbung dann euphorisch als „ein Buch wie ein Dom“ daher stammeln lässt. Übrigens, solch lange, mäandernde Sätze, wie sie der Rezensent hier einmal bewusst eingesetzt hat, kämen Erich Hackl nicht in die Schreibmaschine.
Die erzählte Geschichte hat ein gutes Ende: Der israelische Botschafter in Wien überreichte ihm Medaille und Urkunde von Yad Vashem und Reinhold Druschka bedankt sich lächelnd und sagt mit Blick auf Lucias kleine Enkeltochter: „Das freut mich am meisten, wenn ich die Kinder heute so herumrennen sehe“. Kein Wort darüber, dass es dieses Kind ohne seine Courage nicht geben würde.