Im Jahr 2020 standen die Tarifauseinandersetzungen ganz im Zeichen der Corona-Pandemie: Ab März 2020 ist das normale Tarifgeschäft weitgehend zum Erliegen gekommen. Geplante Tarifverhandlungen wurden entweder verschoben oder es kam zu schnellen schlechten Tarifabschlüssen. In einigen Bereichen lag der Schwerpunkt auf Krisentarifverträgen, die sich vor allem darauf konzentrierten, die Folgen der Pandemie abzumildern. Die vereinbarten Tariferhöhungen betrugen 2020 durchschnittlich 2,0 Prozent. Werden nur die Neuabschlüsse aus dem Jahr 2020 berücksichtigt, stiegen die Löhne jedoch nur um 1,5 Prozent. Gegenüber den Vorjahren 2018 und 2019 mit 3,0 beziehungsweise 2,9 Prozent, fällt der Zuwachs 2020 damit deutlich geringer aus – es zeigen sich die Auswirkungen der Krise.
Das Kapital nützte die Gelegenheit auch, um Abschlüsse wieder auszusetzen. So geschehen beim Tarifvertrag Textile Dienste, den die IG Metall abgeschlossen hatte. Die gerade ausgehandelte Tariferhöhung wurde um zwölf Monate verschoben. Die Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie wurde im Frühjahr 2020 ohne jegliche Aktionen oder Warnstreiks durchgezogen mit einem entsprechenden Ergebnis, das weniger wert war als ein Linsengericht.
Der DGB sagte zum 1. Mai alle Präsenzveranstaltungen ab. In der Bau-Tarifrunde im Sommer fanden ebenso keine Warnstreiks statt, nur kleine Aktionen, obwohl die Branche extrem gute Umsätze und Gewinne, hohe Auftragsbestände und enorm viele Überstunden vorweisen konnte. Nur über eine Schlichtung wurde die Blockadehaltung der Baukapitalisten aufgebrochen, allerdings mit bescheidenem Ergebnis.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sich ein halbes Jahr lang in einer Schockstarre befand, aus der sie erst im Herbst wieder mühsam herauskrabbelte. In der von ver.di geführten Tarifauseinandersetzung des Öffentlichen Dienstes und in betrieblichen Abwehrkämpfen gegen Arbeitsplatzvernichtung, Standortschließungen, Verlagerungen, Entlassungen und sonstige Angriffe der Kapitalseite zeigte die Gewerkschaftsbewegung wieder mehr Kampfgeist mit vielen kreativen Aktionen – angepasst an die Pandemie-Situation. Die Kapitalseite versuchte allerdings weiterhin zu blockieren und griff sowohl betriebliche, tarifliche als auch gesetzliche Errungenschaften an.
Die Gewerkschaftsführungen duckten sich weg, anstatt den Gegenangriff zu organisieren. Sie redeten die Tarifabschlüsse schön. So nannte der ver.di-Vorsitzende Franz Werneke am 16. Oktober 2020 das Angebot der Arbeitgeber „respektlos“. Am 25. Oktober sprach er dann von einem „respektablen Ergebnis“, obwohl es gerade mal um 0,2 Prozent beziehungsweise 100 Millionen Euro höher lag als das „respektlose“ Angebot. Diese Differenz bedeutet für die 2,3 Millionen Beschäftigten aber nicht einmal 50 Euro mehr pro Person – bei insgesamt 28 Monaten Laufzeit. Das sind pro Monat 1,55 Euro mehr – eine Kugel Eis im Monat für ein Kind.
Aber nicht nur das Schönreden von Abschlüssen ist ein Problem. Statt Lohnerhöhungen auf das Monatsentgelt werden immer häufiger Sonderzahlungen vereinbart, die dann als neue Errungenschaft verkauft werden. Dies soll davon abzulenken, dass die Löhne stagnieren beziehungsweise die Reallöhne dramatisch sinken. Ein Beispiel ist die Metallindustrie, wo es viereinhalb Jahre lang keine tabellenwirksamen Erhöhungen gibt. So meldet zum Beispiel die IG Metall Bayern das monatliche „Transformationsgeld“ von 2,3 Prozent als Erfolg, obwohl dieses „Trafogeld“ angespart und jährlich ausbezahlt wird – oder eben auch nicht. Denn es kann auch als Teilentgeltausgleich bei Arbeitszeitabsenkungen eingesetzt werden – ist allerdings weniger wert als eine Arbeitsstunde. Da der neue Trend von Sonderzahlungen – es sind vier verschiedene – für etliche Kolleginnen und Kollegen nicht ganz durchschaubar ist, macht es ja auch nichts, wenn diese Stück für Stück gleich wieder geopfert werden. So kann nämlich auch noch das Weihnachts-, das Urlaubs- oder das Tarifliche Zusatzgeld für Teillohnausgleiche bei Arbeitszeitverkürzungen abgesenkt werden. Und nicht nur aus diesem Grund: Auch dann, wenn die Wirtschaftslage dem Kapital nicht passt – wenn zum Beispiel die Nettoumsatzrenditen unter 2,3 Prozent liegen – können sie verschoben oder reduziert werden.
Die ganze Konstruktion wird dann so verschwurbelt vereinbart und dargestellt, dass der Tarifvertrag zu Trafobaustein und Beschäftigungssicherung – inklusive Kürzungen bei Kurzarbeitszuzahlungen und Sonderzahlungen – 29 Seiten umfasst, davon 13 Seiten Berechnungsbeispiele. Wer wird da noch durchblicken, wann was wie gekürzt werden kann? Zum Vergleich: Der gesamte Manteltarifvertrag von 2005, der die gesamten Rahmenbedingungen von Arbeitsverhältnissen regelt wie Arbeitszeit, Einstellung, Kündigung, Zuschläge, Alterssicherung und so weiter, umfasst gerade mal 33 Seiten. Der Tarifvertrag zum Weihnachtsgeld von 1996 passt auf fünf Seiten. Allein schon der Umfang zeigt, dass hier eine Vielzahl von Ausnahmen und Sonderregelungen – man kann es auch „Schweinereien“ nennen – versteckt werden.
Den Höhepunkt der „kreativen“ Wortschöpfungen für Sonderzahlungen finden wir in der baden-württembergischen Schmuck-, Uhren- und Edelmetallindustrie. Dort gibt es ab Juni 2022 einen tariflichen „Edelmetallbaustein“ (TEMB). Inhaltlich ist dieser nichts anderes als der „Trafobaustein“ – nur dass „Edelmetallbaustein“ natürlich noch schöner klingt.
Gerne wird in Tarifauseinandersetzungen auch von einem „Durchbruch“ bei den Verhandlungen geredet – ganz aktuell bei der Angleichung Ost. „Die Mauer bröckelt. Die IG Metall hat den Durchbruch bei der Angleichung der Arbeitsbedingungen in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie geschafft.“ Was hier als Durchbruch bezeichnet wird, ist eine Vereinbarung, dass bis Ende Juni mit dem Verband der sächsischen Metall- und Elektroindustrie ein „Rahmen“ ausgehandelt werden soll, der „betriebliche Schritte zur Angleichung“ ermöglicht. Nichts wurde jedoch im Flächentarifvertrag zur Angleichung festgeschrieben. Nun soll der Häuserkampf geführt werden, um wenigstens in einzelnen Betrieben über Stufenverträge langsam eine Annäherung an die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. Ein Durchbruch ist dies wahrlich nicht.
Ein Kurswechsel der Gewerkschaften ist dringend notwendig: Weg mit dem Geschwurbel, das nur ein Ausdruck davon ist, dass auf die Interessen des Kapitals immer mehr Rücksicht genommen wird – hin zu einer klassenkämpferischen Ausrichtung.