Es gehe „eben nicht nur um das Materielle, sondern um das Gefühl, gleichwertig zu sein“. So kommentierte Bundespräsident Steinmeier am Vorabend des 3. Oktober die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in Ostdeutschland. Angesichts aktueller Umfragen zu den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland, in der die SPD vor allem in Thüringen und Sachsen fast keine Rolle mehr spielt, während die AfD dominiert, schlägt SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert in die gleiche Kerbe. Es sei eine Binsenweisheit, dass Gefühle in der Politik häufig mehr zählen als Fakten. Was nützten die Geschichten von hunderten Windrädern und großen Fabriken, wenn sie keiner hören will. Kühnert will mit „ostdeutschen Erfolgsgeschichten“ Zuversicht und Aufbruchstimmung verbreiten.
Armut, prekäre Beschäftigung und ungleiche Behandlung sind zwischen Eisenach und Görlitz jedoch – anders als von westdeutschen Spitzenpolitikern behauptet – kein diffuses Gefühl, sondern bittere Realität. Nach 1990 wurden dort die industriellen Kerne zerstört, eine ganze Volkswirtschaft wurde liquidiert. Viele junge Menschen verließen das Land, um im Westen Arbeit zu finden. Für die Zurückgebliebenen galt und gilt noch heute: Es wird deutlich länger gearbeitet als im Westen und dies für weniger Lohn. Tarifgebundene Betriebe sind zwischen Weimar und Frankfurt an der Oder noch seltener anzutreffen als im Westen und auch die Anzahl der Beschäftigten, die einen Tariflohn erhalten, ist deutlich geringer. Der über viele Jahre als „Standortfaktor“ gepriesene Niedriglohnsektor ist ebenfalls noch eine Nummer größer als in den „alten Bundesländern“.
Die niedrigen Löhne führen auch dazu, dass Krise und Inflation die Menschen im Osten besonders belasten, da diese in Relation einen größeren Anteil ihres Einkommens für teure Nahrungsmittel und Energie aufwenden müssen. Die Arroganz der etablierten Parteien, diese realen Probleme als „diffuse Gefühle“ abzutun, ist sicher eine Erklärung dafür, dass die Umfragewerte für eine vermeintliche „Alternative“ Rekordwerte erreichen. Um dieser fatalen politischen Entwicklung entgegenzuwirken, helfen keine moralischen Appelle und der Hinweis auf offen faschistische Strukturen in der AfD. Hier hilft nur eine Politik, die die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nimmt und die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt.