EU-Steuergelder sollen mit Folgen des Wirtschaftskrieges versöhnen

Wolkenschlösser über Schwedt

Es hätte auch ein anderer Tag werden können – ein Tag, an dem eine blühende Stadt das Werk feiert, das an seiner Wiege stand: Am 30. Mai 1964 wurde in Schwedt das „Petrochemische Kombinat“ (PCK) in Betrieb genommen, am 1. Juli begann der Dauerbetrieb. Das Kombinat war durch die „Drushba“ – also „Freundschaft“ – Trasse direkt mit den Erdölquellen in der So­wjet­union verbunden und verwandelte die von dort kommenden Rohstoffe in alles, was ein Industrieland braucht: Benzin, Heizöl, Petroleum, Bitumen für Dächer und Asphalt für die Straßen. Die Einwohnerzahl, die 1961 noch knapp unter 10.000 Menschen lag, wuchs auf 54.000 überwiegend junge Menschen: Sprudelndes Leben, Hoffnung und Sicherheit, dass die Kinder und Enkel den Arbeitsplatz ihrer Eltern übernehmen und weiter verbessern können.

Statt 54.000 leben dort jetzt nur noch knapp 34.000 überwiegend ältere Menschen. Und die hypothetische Frage auf dem Marktplatz, Passanten gestellt: „Wie sieht’s denn hier mit der Zukunft aus?“ würde bestenfalls Ironie, vielleicht Schlimmeres hervorrufen.

Erst die Konterrevolution 1989 und dann der 2022 begonnene Wirtschaftskrieg gegen Russland haben dem Werk und der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes den Hahn abgedreht. Mit dem Wirtschaftskrieg entschied die Bundesregierung, dass künftig kein Gas und kein Öl mehr aus diesem rohstoffreichsten Land des eurasischen Kontinents gekauft werden darf. Alle Ersatzlösungen – wie das Öl per Schiff aus den USA oder vielleicht sogar über die Drushba-Trasse aus Kasachstan – haben das Werk zwar bis jetzt am Laufen gehalten, bieten aber keine sichere Perspektive. Und außerdem: Das Werk gehört zu gut 54 Prozent der „Rosneft Deutschland GmbH“ – also „dem Russen“. Und die Bundesregierung knobelt seit 2022 an der Aufgabe, Rosneft zu enteignen, ohne das im Kapitalismus heilige Recht des Privateigentums an Produktionsmitteln zu verletzen.

In einer solchen Lage helfen nur noch Wolkenkuckucksheime. Also zauberten Land, Bund und Stadt zum zerschossenen 60. Jahrestag des Aufblühens von Schwedt ein Heim, ja, ein ganzes Schloss in die Wolken über Schwedt. An Stelle des weiter funktionierenden Busbahnhofs soll nun ein „Service- und Transformationsgebäude“, kurz und einfallsreich „Trafo“ genannt, entstehen. Dafür stellt die EU 17 Millionen Euro Steuergelder aus dem „Just Transition Fund“ bereit. Einen Plan, wie daraus etwas wirtschaftlich Vernünftiges werden soll, gibt es zwar noch nicht, aber viele schöne Namen: Das Bürogebäude, das dort hochgezogen und zur Miete angeboten werden soll, heißt „Maker’s Space“, das angegliederte Wohnheim für zugezogene Angestellte „Boarding House“. Dort soll an der Ersetzung von Öl und Gas durch Wasserstoff als energetische Basis für energieintensive Produktion gesponnen werden. Den herzustellen braucht es aber große Mengen an Strom, die bisher nicht in Sicht sind.

Fast zeitgleich zur Illusionsfete in Schwedt veröffentliche der Verband der Chemischen Industrie (VCI) eine Schätzung, wieviel Energie gebraucht werde, um alle die chemischen Prozesse, die bisher auf Erdöl- und Erdgas-Basis vollzogen werden, vollständig auf Strom umzustellen. Die von der Bundesregierung als Ziel verkündete „Dekarbonisierung“ dieser Industrie würde danach den Strombedarf der chemischen Industrie bis 2050 auf 685 Terawattstunden erhöhen. Das wäre mehr Strom als heute das ganze Land verbraucht.

Ohne Bodenhaftung mit über die EU umgeleiteten Steuergeldern Wolkenkuckucksheime errichten – das ist das bittere Geburtstagsgeschenk von Scholz, Habeck und Co. für Schwedt.

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"Wolkenschlösser über Schwedt", UZ vom 7. Juni 2024



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