Kanzlerin Angela Merkel und andere Politiker feierten vergangene Woche mit großem Tamtam in Berlin „70 Jahre Soziale Marktwirtschaft“, den Jahrestag der Wirtschafts- und Währungsreform im Jahr 1948 und den angeblichen „Vater“ der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhardt, gleich mit.
Merkel pries die Soziale Marktwirtschaft als „das Fundament des wirtschaftlichen Erfolgs unseres Landes“. Die Wettbewerbsbedingungen hätten sich aber durch die Globalisierung verschärft. Zu den besonderen Herausforderungen verwies Merkel auf die künstliche Intelligenz, dort sei Deutschland nicht an der „Spitze der Bewegung“. Dies könne auch Auswirkungen auf die Soziale Marktwirtschaft haben: „Nun gibt es – darüber ist heute ja schon gesprochen worden – keinen Automatismus, dass die Soziale Marktwirtschaft auch in Zukunft einfach so funktioniert. Denn das Thema ‚Wohlstand für alle’ ist heute nicht mehr so selbstverständlich. Der Gradient ist kleiner geworden, wenn er überhaupt noch in die richtige Richtung zeigt. Menschen leben sehr stark davon, dass sich etwas in eine positive Richtung verändert. Das aber kann heute in Anlehnung an den klassischen, engen Wachstumsbegriff einfach nicht mehr jedem versprochen werden“, so die Kanzlerin.
Erhards „Wohlstand für Alle“ präge bis heute die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung in Deutschland“, so stand es in der Einladung zum Festakt. Die Alltagswirklichkeit ist eine andere. Das belegen die Armuts- und Reichtums-Berichte Jahr für Jahr leider aufs Neue. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) meldete, die verfügbaren Einkommen des unteren Zehntels der Bevölkerung seien zwischen 1991 und 2013 um 9 Prozent gesunken, während die des oberen Zehntels um 26 Prozent nach oben schnellten. Der gesellschaftliche Reichtum in Deutschland ist heute so ungleich verteilt wie zuletzt 1913 – als die obersten 10 Prozent der Bevölkerung 40 Prozent aller Einkommen auf sich vereinigten. Da bleibt nichts übrig von der Mär des Erhardschen „Wohlstands für Alle“.
Das Etikett „Soziale Marktwirtschaft“ diente von Anfang an der Täuschung über den w(ah)ren Charakter der Gesellschaft. Es ging darum, das in Verruf geratene Wort Kapitalismus zu vermeiden. Im Ahlener Programm der CDU konnte man deshalb 1947 lesen: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“
Der amerikanische Oberbefehlshaber Lucius D. Clay suchte dringend einen neuen Wirtschaftsdirektor für die Bizone. Über Ludwig Erhard wusste er nicht sonderlich viel, nur, dass Erhard „sehr gutmütig sei und gerne Reden über das freie Unternehmertum halte“.
Erhards Karriere begann eher bescheiden 1928 beim unternehmernahen „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigwaren“. In diesem Institut befasste sich Erhard zum Beispiel auch mit der für die Nazis wichtigen Frage, wie die von den Deutschen besetzten Gebiete in Polen, Lothringen und Österreich ins Großdeutsche Reich wirtschaftlich zu integrieren wären. Der „Dicke mit der Zigarre“ konnte dann, nach dem verlorenen Krieg im Auftrag des Kapitals als Wirtschaftsdirektor der Bi-Zone die Aufhebung der Preiskontrolle verfügen und die Währungsreform zum 20. Juni 1948 einführen.
Das war nicht der Startschuss zum deutschen „Wirtschaftswunder“, sondern zur deutschen Spaltung. Die Etablierung der kapitalistischen Wirtschaft brachte nicht den versprochenen „Wohlstand für alle“, sondern führte anfänglich sogar zur weiteren Verschlechterung der sozialen Lage. Deshalb kam es 1948 in vielen Städten gegen die Härten der Währungsreform zu großen spontanen Streiks. In Stuttgart kam es dabei zu den sogenannten „Stuttgarter Vorfällen“, bei denen General Clay sogar Panzer gegen die streikenden Stuttgarter Arbeiter auffahren ließ. Für den 12. November 1948 rief der DGB zum Generalstreik auf, die Streikbeteiligung war riesig. Diese Streiks trugen entscheidend dazu bei, dass die kapitalistische Marktwirtschaft heute (noch) einige „soziale“ Einsprengsel – zumindest auf dem Papier hat.