Als mich ein Freund während einer heftig, geführten Auseinandersetzung über den Krieg in der Ukraine fragte, „Ja, wo willst du denn leben, wenn Putin jetzt auch Europa überfällt? Da bleibt doch nur Amerika!“ Na, wunderbar, Putin überfällt Europa?! Welch glänzende Idee. Ich stöhnte innerlich und die Vergeblichkeit meiner Bemühungen, wenigstens diesen Freund aus dem Tal der Ahnungslosen zu befreien, wurde mir schlagartig bewusst. „Ich emigriere also in die USA, meinst du? Auf keinen Fall!“, antwortete ich trotzig. „Das ist ja wie vom Regen in die Traufe.“
Noch zu gut habe ich Bilder im Kopf, die Franziska Becker, in ihrem letzten Buch „Amerika the beautiful“ gezeichnet hat.
Amerika, das gelobte Land. Das Land, das unsere Werte von Freiheit und Demokratie so vorbildlich repräsentiert! So höre ich es aus allen Lautsprechern und Politikerkehlen von Herrn Röttgen bis Frau Baerbock. Die Beckerschen Zeichnungen sprechen eine andere Sprache. In diesem bunt schillernden Buch, in dem sich die verrücktesten und die verrückten Gestalten tummeln, hat Franziska Becker ihre amerikanischen Eindrücke verarbeitet.
Seit 25 Jahren pendelt sie zwischen Köln und Wilmington/Delaware, wo sie mit ihrem Mann lebt, hin und her. Ihr Erlebtes hat sie jetzt in einem eindrucksvollen Bildband mit 125 Tableaus festgehalten. Farbige Aquarelle und Strichzeichnung stehen konkurrenzlos nebeneinander. Fast jede Seite ein Wimmelbild, in dem die unterschiedlichsten Gestalten – skurril bis bizarr oder einfach nur komisch – um Aufmerksamkeit ringen.
„Amerika the beautiful“ ist einer der Gelungensten in Beckers ansehnlicher Reihe an Comics, die sie meist als Karikaturistin der Zeitschrift „Emma“ veröffentlichte.
Sie glaube nicht, in den USA arbeiten zu können, sagte sie einmal, sie kenne die Menschen zu wenig, ihre Eigenheiten und ihre Schrullen. Aber über die USA … das konnte sie sich einfach nicht verkneifen.
Trotz all der Jahre hat sich Becker diese Distanz bewahrt, die es ihr erlaubt, das scheinbar Normale, Unauffällige des amerikanischen Alltags wahrzunehmen. Folgen wir also ihrem Blick und begeben uns auf einen Spaziergang durch das „real America“, abseits der Touristenmeilen. Becker zeigt uns, und das ist die frohe Botschaft, die USA wirtschaften in einem unreformierbaren System. Jedoch empfiehlt es sich genau hinzusehen, um so – möglicherweise – die zu übersehenden Ähnlichkeiten unseres Lebens mit dem der transatlantischen Freunde zu erkennen. Leider stellen sich diese nicht nur in Bezug auf Fettleibigkeit dar.
Es taucht die Frage auf, wer hat recht? Unsere Staatsrepräsentanten, die nicht müde werden, uns die Vorzüge der Bidenschen Politik gegenüber dem Trampel Trump und dieses Land als leuchtendes Vorbild anzupreisen, dem sie gerne in Gesetzesform Nachdruck verleihen wollen. Oder das, was uns Franziska Becker in „Amerika the beautiful“ vorführt.
„500 Dollar für 10 Pillen? Oh, je, kann ich mir eine kaufen?“ „Klassenkampf auf der 5th Avenue, Hotel Pierre, NYC. Feuert ein Arbeitgeber einen Angestellten kurz vor dessen Pensionierung, erhält dieser keine Rente.“ „Arbeiten bis zum Tod …?“. Staatliche Krankenkasse und Rentenversicherung, what about this?
Aber, aber, man muss sich halt ein bisschen anstrengen, die Zähne zusammenbeißen (wenn man die noch hat …). Nicht auf der faulen Haut liegen. Geht’s der Wirtschaft gut, dann auch dir – Lindner, Merz und BlackRock lassen grüßen. Voilà, hier ist die Aktienrente.
Dazu intoniert der Kanzler: „Amerika ist unser engster Freund.“ Und wir, das Volk, wir freuen uns schon auf „Freiluftwohnen im Golden State L.A. 30 Prozent der Obdachlosen sind voll berufstätig, können sich dennoch keine Unterkunft leisten ….“ Tatsächlich? Leider ja.
War einer der gewichtigen Politiker schon mal in den Streets of America? Waren sie schon einmal in den Nebenstraßen der Broadways? Keine Zeit, sich zwischen den Banketten mal die Beine zu vertreten?
Na, ganz so schlimm ist es doch nicht, „Palmetto Bluff SC: a Gated Community, schöne heile Welt. Superreiche lassen ihre leerstehenden Drittwohnungen von Bediensteten wohnlich herrichten …“ Und, „Bloß keine Hektik. Amerikaner lieben das Plaudern ….“ „Ostersonntag, Easter Parade auf der 5th Avenue.“
Also! Es ist nicht alles schlecht. Es gibt sie noch, die kleinen Fluchten, die sich die Menschen, zwar mühselig (das will ich nicht gehört haben), zu bewahren suchen.
Beckers Zeichnungen sind krass und komplex. Detailverliebt – man kann sich darin verirren – und liebevoll. Es ist ein fast zärtlicher Blick auf das Unscheinbare. Ein Amerika von unten. Ein „Hinterhof-Amerika“ im eigenen Land!
Aber erst einmal selbst reinschauen und ihre überbordende Real-Phantasie genießen!
Franziska Becker
Amerika the beautyful
25 Jahre unter Eingeborenen
Alibri Verlag, 128 Seiten, 20 Euro