Bruno Mahlow stellt als Mitglied des Ältenstenrates der „Linken“ Fragen – nicht nur an seine Partei

Wo stehen wir?

Bruno Mahlow

Der Parteivorstand der Partei „Die Linke“ sprach in einer ersten Stellungnahme zum Ausgang der Bundestagswahl 2021 von einer „dramatischen Niederlage“. Diese habe er „zuallererst selbst zu verantworten“. Aber schon im nächsten Satz hieß es: „Einige Faktoren lagen außerhalb unseres Einflusses, aber wir müssen nun grundlegende Fragen stellen.“

Dazu hätte ich einige Vorschläge. Zunächst: „Wo stehen wir?“ Wir brauchen eine Einschätzung der internationalen Situation und der Außenpolitik und eine Analyse der Lage in der bundesdeutschen Gesellschaft. Wir brauchen Klarheit darüber, was es heißt, Politik mit den Menschen und für die Menschen zu machen. Wir brauchen Klarheit über die Situation in den einzelnen sozialen Schichten, die gesellschaftliche Basis der „Linken“, um zu begründeten Schlussfolgerungen zu kommen. Wir brauchen eine Bewertung der gegenwärtigen Entwicklung der Produktivkräfte und im Zusammenhang damit der gegenwärtige Phase des Monopolkapitalismus. Ich nenne nur als Beispiel die neue Welt der Arbeit infolge der Digitalisierung.

Mit Blick auf die erneute Wahlniederlage der Partei „Die Linke“ stellen sich folgende Fragen:

Warum war „Die Linke“, insbesondere in der Pandemie, nicht zu spüren? Wirken ihre Funktionäre und Mitglieder in ihrer Mehrheit nicht dort, wo die Menschen sind? Wo steht „Die Linke“ im Kampf um Werte und Lebensqualität? Inwieweit sind ihre Kandidatinnen und Kandidaten und Funktionäre in ihren Wahlkreisen, Wohngebieten und Wirkungsstätten engagiert beziehungsweise fest etabliert?
Warum wurde im Wahlkampf offenes Abgehen von unseren Beschlüssen und Programmen zugelassen? Worum geht es wirklich – um kämpferische Opposition mit klarer eigener Identität, Weltanschauung und Tradition oder um einen Regierungsanpassungswahlverein?

Warum verzichtet „Die Linke“ auf die Analyse der Offensive der rechten Kräfte? Der Rechtsruck nimmt weltweit zu und setzt auf eine neue menschenfeindliche Weltordnung. Die USA kämpfen mit allen Mitteln gegen ihren Niedergang. Wie kann „Die Linke“ da auf die Auseinandersetzung mit Faschismus und Antikommunismus, mit dem feindlichen Kurs gegen Russland und China verzichten?

Warum vernachlässigt „Die Linke“ die Arbeit mit und unter der Jugend so massiv, die nicht gleichbedeutend mit der Aufnahme neuer junger Mitglieder ist?
Und schließlich: Was heißt es, wenn sich die Partei nun „neu erfinden“ soll? Gibt es keine Lehre aus dem „Reformweg“ seit 1989?

Für eine längere Zeit werden die Linken insgesamt noch in einer nichtrevolutionären Situation um die Erweiterung ihres Einflusses kämpfen. In einer Situation, in der die Unzufriedenheit zunimmt, aber deren Träger noch nicht reif für eine Selbstbefreiung sind. Für die heutigen Beschäftigten und Erwerbslosen gelten ebenso wie für das seinerzeitige Proletariat die Aussagen von Friedrich Engels nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts: „Und endlich herrscht die besitzende Klasse direkt mittels des allgemeinen Stimmrechts. Solange die unterdrückte Klasse, also in unserem Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, so lange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein.“ In diesem Sinne sind die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts in den diesjährigen Bundestagswahlen eben ein Gradmesser für die Reife der Gesellschaft und in ihr wirkender gesellschaftlicher Kräfte. Es kommt darauf an, das (Klassen-)Bewusstsein zu heben.

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"Wo stehen wir?", UZ vom 15. Oktober 2021



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